Energiekrise: Habeck hält nach Netzstresstest am Atomausstieg fest
Die Atomkraftwerke Isar 2 in Bayern und Neckarwestheim 2 in Baden-Württemberg werden nach Netzstresstest als Ersatz bereitgehalten. Maßnahmenbündel gegen angespannte Lage im Stromnetz.
Die Energiekrise beschert Deutschland und Europa einen harten Winter auf dem Strommarkt. Daher hat Vize-Kanzler Robert Habeck nach einem Netzstresstest der vier deutschen Übertragungsnetzbetreiber mehrere Maßnahmen angekündigt, um auch in einem Worst Case gut durch die kalten Monate zu kommen. Gegen den politischen Druck von Liberalen und Konservativen sowie vieler Medienhäuser entschied sich Habeck dafür, am Atomausstieg zum 31.12.2022 festzuhalten. Zwei der drei Atomkraftwerke werden noch bis April als Notreserve vorgehalten.
Ein solcher Netzstresstest, durchgeführt von den Übertragungsnetzbetreibern 50Hertz, Amprion, TenneT und TransnetBW, ist gewöhnlich reine Routine. Doch in diesem Jahr, so betonte auch Wirtschaftsminister Habeck bei der Vorstellung der Ergebnisse, gebe es kein „Normal“. Warum, wird in den Ausführungen des Ministers und der Chefs der Übertragungsnetzbetreiber deutlich: Sogar die extremen Annahmen, die dem Netzstresstest zugrunde lagen, mussten während der Berechnungen korrigiert werden.
Denn die Lage am europäischen Strommarkt ist mehr als ungewöhnlich: In Frankreich stehen nur 20 Gigawatt Kraftwerksleistung aus Atomkraftwerken zur Verfügung – von einer versprochenen Renaissance der Kernenergie ist nichts zu spüren. Zeitgleich sorgt Dürre unter anderem für Probleme mit norwegischer Wasserkraft, während die niedrigen Pegelstände des Rheins die Belieferung deutscher Kohlekraftwerke mit Steinkohle auf der Wasserstraße erschweren.
All diese negativen Umstände wurden beim Netzstresstest berücksichtigt – und auch noch auf Basis des Jahres 2012 berechnet, das von einem extrem kalten Winter geprägt war. Im Ergebnis zeigten die Analysen: In einzelnen Stunden des Winters kann es unter sehr unwahrscheinlichen Bedingungen passieren, dass nicht ausreichend elektrische Energie verfügbar ist, um den Bedarf zu decken.
Dabei liegt die Schwierigkeit vor allem in der geographischen Lage Deutschlands begründet: Mit Verbindungsleitungen zu elf europäischen Ländern ist Deutschland besonders von der Entwicklung in Europa abhängig. Und: Die Übertragungsnetzbetreiber sprechen von einer Unwucht innerhalb des deutschen Stromnetzes: Unter Umständen muss zur Erreichung der Netzstabilität erneuerbare Energie aus dem Nordosten vom Netz genommen und gleichzeitig Kraftwerkskapazität im Süden hinzugenommen werden, um die Stabilität des Netzes zu gewährleisten.
Das wiederum ist Folge der mangelnden Transportkapazitäten – Bayern hat den Netzausbau seit mehreren Jahren verschleppt. In einem ungünstigen Fall kann es also passieren, dass im Süden nicht mehr genügend Kapazitäten hinzugeschaltet werden können, auch deshalb, weil der Windrad-Ausbau in Bayern jahrelang blockiert wurde.
Netzbetreiber schlagen Maßnahmenbündel vor
Als Ergebnis des Netzstresstest schlagen die Übertragungsnetzbetreiber daher ein Bündel an Maßnahmen vor, damit es nicht zu einer kurzzeitigen Lastunterdeckung oder Stromausfällen oder erzwungenen Abschaltungen kommen wird. Hierzu zählt die Nutzung von Kraftwerksreserven ebenso wie die Marktrückkehr von Kohlekraftwerken. Daneben wird eine Novelle des Energiesicherungsgesetzes angestrebt. um etwa die zusätzliche Stromproduktion von Biogasanlagen sowie Maßnahmen zur Höherauslastung der Stromnetze sicherzustellen.
Politisch brisant ist aber eine andere Konsequenz aus dem Netzstresstest: Habeck entscheidet sich, die Atomkraftwerke Neckarwestheim 2 und Isar 2 nicht zum 31.12.2022 nicht abzuschalten, aber grundlegend am Atomausstieg festzuhalten. Dieser Plan geht so: Die beiden AKW in Baden-Württemberg und Bayern bleiben als Ersatzreserve bestehen. Sollte sich im Dezember herausstellen, dass die Leistung der Kraftwerke gebraucht wird, werden sie länger am Netz im sogenannten Streckbetrieb verleiben.
Allerdings sind die Bedingungen klar: Die Hochrisikotechnologie Atomkraftwerk wird in ihrer möglichen Laufzeit nur einmalig verlängert. Es werden keine neuen Brennstäbe geordert, und im April 2023 ist endgültig Schluss.
Schon heute ist es extrem unwahrscheinlich, dass die Kraftwerke nach dem 31.12.2022 noch gebraucht werden. Aber eine Hintertür will sich Minister Habeck offen halten – in einem Jahr, das so dermaßen ungewöhnlich verläuft, durchaus verständlich.
Frankreich verspricht Rückkehr der Atomkraftwerke
Der Grund, warum die Atomkraftwerke im Süden Deutschlands wahrscheinlich Ende Dezember ihre letzte Betriebsstunde mit Stromproduktion erleben werden, ist, dass Frankreich die Rückkehr vieler Atomkraftwerke bis Ende des Jahres verspricht. Dann werde das Land eine Kraftwerksleistung von 50 Gigawatt am Netz haben – gegenüber nur etwas mehr als 20 Gigawatt heute. Ob sich Frankreich am Ende aber wirklich traut, Kraftwerke, die gerade wegen Korrosionsproblemen außer Betrieb sind, laufen zu lassen? Einige der Kraftwerke befinden sich in einer turnusgemäßen Wartung, da erscheint die Rückkehr realistischer.
„Die Atomkraft ist und bleibt eine Hochrisikotechnologie und die hochradioaktiven Abfälle belasten zig nachfolgende Generationen“, so Vize-Kanzler Habeck. „Mit der Atomkraft ist nicht zu spielen. Eine pauschale Laufzeitverlängerung wäre daher auch im Hinblick auf den Sicherheitszustand der Atomkraftwerke nicht vertretbar.“
Einsatzreserve im Energiesicherungsgesetz
Die Einsatzreserve soll im Energiesicherungsgesetz geregelt werden. Sie setzt zudem voraus, dass keine Abstriche von den üblichen Sicherheitsanforderungen gemacht werden. Entsprechend ist eine belastbare Prüfung des Sicherheitszustandes nötig. Um zu entscheiden, wann die Reserve abgerufen wird, wird ein Monitoring der Bundesnetzagentur zur Bewertung der Strommarkt- und Netzsituation frühzeitig die Entwicklungen im Stromsystem (Kohlevorräte, Kraftwerkverfügbarkeiten, Gasverfügbarkeit etc.) aufzeigen.
So soll eine Analyse der stromseitigen Versorgungssicherheit anhand unterschiedlicher Indikatoren ermöglicht werden. Diese dient dann als Grundlage für die Entscheidung über eine mögliche Aktivierung der AKW-Einsatzreserve. Es werden u. a. die Parameter überwacht, die in den Netzstresstest-Szenarien kritische Markt- und Netzsituationen nach sich ziehen. Ziel sollte eine Bewertung der Gesamtsituation und eine frühzeitige Bewertung alternativer Maßnahmen sein.
Netzstresstest zeigt Stabilität der Stromversorgung
Der Netzstresstest im Detail zeigt, dass bereits sehr, sehr unwahrscheinliche Annahmen getroffen werden müssen, damit es zu relevanten Problemen in der Stromversorgung kommen kann. Die grundlegende Stabilität ist in jedem Fall sichergestellt, und die Behauptungen, Deutschland stünde unmittelbar vor einem Blackout sind mit „albern“ noch sehr freundlich umschrieben.
Schon im Dezember, wenn etwa klarer ist, wie viele französische AKW wirklich wieder ans Netz gehen, wird sich herausstellen: Die Atomkraftwerke werden im Winter nicht mehr gebraucht. Es zeigt sich: Deutschland ist auf die kalten Monat gut vorbereitet. Ein weiteres Zurückdrehen der Energieversorgung durch eine echte Laufzeitverlängerung der Atomkraftwerke hätte die Erneuerbaren Energien unnötigerweise blockiert.
Es ist beruhigend zu wissen, wie intensiv die Übertragungsnetzbetreiber auch mit dem Minister um Lösungen gerungen haben. Und es ist wiederum gut, dass Robert Habeck und Olaf Scholz regieren: Denn sie haben über Monate darauf hingearbeitet, dass Deutschland trotz Energiekrise durch den Winter kommt. Die Erpressungsversuche Putins beim Gas durch Nordstream 1 laufen ins Leere: Denn die Gasspeicher sind zu 85 Prozent gefüllt, und Deutschland hat viel weniger Gas verbraucht als vor einem Jahr.
Martin Ulrich Jendrischik, Jahrgang 1977, beschäftigt sich seit mehr als 15 Jahren als Journalist und Kommunikationsberater mit sauberen Technologien. 2009 gründete er Cleanthinking.de – Sauber in die Zukunft. Im Zentrum steht die Frage, wie Cleantech dazu beitragen kann, das Klimaproblem zu lösen. Die oft als sozial-ökologische Wandelprozesse beschriebenen Veränderungen begleitet der Autor und Diplom-Kaufmann Jendrischik intensiv. Als „Clean Planet Advocat“ bringt sich der gebürtige Heidelberger nicht nur in sozialen Netzwerken wie Twitter / X oder Linkedin und Facebook über die Cleanthinking-Kanäle ein.