Mitteleuropa könnte seine erneuerbare Stromerzeugung durch die Kombination von Solaranlagen und Landwirtschaft fast verdreifachen – eine Win-Win-Situation für Landwirte und Energiewende
Die weltweite Solarindustrie boomt. Prognosen von BloombergNEF zufolge werden 2024 voraussichtlich 592 Gigawatt an Solarmodulen installiert, was einem Anstieg von 33 Prozent gegenüber 2023 entspricht. Dieser rasante Ausbau der Solarenergie bringt aber auch Herausforderungen mit sich. Die Konkurrenz um Flächennutzung und die Notwendigkeit, die schwankende Solarenergie effizient zu speichern beispielsweise. Agri-Photovoltaik (Agri-PV) bietet hier eine innovative und vielversprechende Lösung, die sowohl die Energie- als auch die Ernährungssicherheit stärken kann.
Agri-PV: Synergie von Landwirtschaft und Solarenergie
Agri-PV beschreibt eine multifunktionale Landnutzungsstrategie, bei der Solarmodule auf oder zwischen landwirtschaftlichen Nutzflächen installiert werden. Dadurch wird die gleiche Fläche sowohl für die Nahrungsmittelproduktion als auch für die Erzeugung erneuerbarer Energie genutzt.
Eine aktuelle Analyse des Think-Tanks Ember zeigt das enorme Potenzial der Kombination von Landwirtschaft und Energieversorgung in Mitteleuropa auf und unterstreicht die Vorteile dieser innovativen Technologie.
Mitteleuropa: 68% des Strombedarfs durch Agri-Photovoltaik decken
Laut der Studie könnten Tschechien, Ungarn, Polen und die Slowakei durch Agri-PV 191 Terawattstunden (TWh) sauberen Strom erzeugen. Das entspricht 68 Prozent des aktuellen Strombedarfs dieser Länder und fast dem Dreifachen ihrer derzeitigen erneuerbaren Stromerzeugung (73 TWh).
Diese Zahlen verdeutlichen das immense Potenzial von Agri-PV, die Energiewende in Mitteleuropa voranzutreiben und die Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen zu verringern.
Agri-PV stärkt Ernährungssicherheit und Landwirtschaftserträge
Die Landwirtschaft in Mitteleuropa steht vor großen Herausforderungen. Volatile Düngemittelpreise, die durch den Krieg in der Ukraine und die Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen verursacht werden, sowie die Auswirkungen des Klimawandels, wie Dürren und extreme Wetterereignisse, bedrohen die Nahrungsmittelproduktion und stellen die Ernährungssicherheit in Frage.
Agri-PV kann hier eine entscheidende Rolle spielen, indem es die Landwirtschaft widerstandsfähiger macht. Die Solarpaneele bieten den Pflanzen Schutz vor übermäßiger Sonneneinstrahlung und Hagel, verbessern die Wasserretention in Trockenperioden und können sogar die Erträge steigern.
Studien zeigen, dass bei schattenliebenden Pflanzen wie Beeren Ertragssteigerungen von bis zu 16 Prozent möglich sind. Bei weniger schattentoleranten Pflanzen wie Weizen können Ertragsverluste durch den Einsatz vertikaler Solarpaneele mit breiten Reihenabständen auf unter 20 Prozent begrenzt werden.
Somit ermöglicht Agri-PV eine nachhaltige Nahrungsmittelproduktion, selbst unter schwierigen klimatischen Bedingungen.
Höhere Gewinne für Landwirte
Neben den ökologischen Vorteilen bietet Agri-PV auch wirtschaftliche Chancen für Landwirte. Die zusätzlichen Einnahmen aus dem Verkauf von Solarstrom können die reduzierten Erträge aus dem Getreideanbau mehr als ausgleichen und somit zu einer höheren Profitabilität führen. Eine Fallstudie aus Polen zeigt, dass Agri-PV die Einnahmen pro Hektar im Vergleich zum reinen Weizenanbau um das Zwölffache steigern kann. Der potenzielle Jahresgewinn liegt bei beeindruckenden 1.268 Euro pro Hektar.
Dies verdeutlicht, dass Agri-PV Landwirten eine attraktive Möglichkeit bietet, ihre Einkommen zu diversifizieren und ihre Betriebe zukunftssicher zu machen.
Regulierung und Unterstützung sind entscheidend
Obwohl Agri-PV ein enormes Potenzial bietet, ist der Zugang in vielen Ländern noch begrenzt. In Ungarn, Polen und der Slowakei fehlen noch entsprechende Regelungen, während Tschechien kürzlich ein Agri-PV-Gesetz eingeführt hat. Länder wie Deutschland, Frankreich, Italien und die Niederlande, die bereits rechtliche Rahmenbedingungen für Agri-PV geschaffen haben, verzeichnen ein schnelles Wachstum in diesem Bereich.
Es ist entscheidend, dass politische Entscheidungsträger in ganz Europa die notwendigen rechtlichen Rahmenbedingungen schaffen und finanzielle Anreize bieten, um den Ausbau von Agri-PV zu fördern und Landwirte bei der Umsetzung zu unterstützen.
Agri-PV ist eine vielversprechende Lösung, um die Herausforderungen der Energiewende und der Ernährungssicherheit gleichzeitig anzugehen. Durch die Kombination von Solarenergie und Landwirtschaft auf derselben Fläche können sowohl erneuerbare Energie erzeugt als auch die landwirtschaftliche Produktion gesichert und sogar gesteigert werden. Europäische Unternehmen haben die Chance, bei dieser Entwicklung eine Vorreiterrolle einzunehmen und von den wachsenden Marktchancen zu profitieren.
Die Einführung von Agri-PV erfordert eine enge Zusammenarbeit zwischen Landwirten, politischen Entscheidungsträgern und der Industrie. Nur so kann das volle Potenzial dieser innovativen Technologie ausgeschöpft und ein Beitrag zu einer nachhaltigen Zukunft geleistet werden, in der sowohl die Energieversorgung als auch die Nahrungsmittelproduktion sichergestellt sind.
Martin Ulrich Jendrischik, Jahrgang 1977, beschäftigt sich seit mehr als 15 Jahren als Journalist und Kommunikationsberater mit sauberen Technologien. 2009 gründete er Cleanthinking.de – Sauber in die Zukunft. Im Zentrum steht die Frage, wie Cleantech dazu beitragen kann, das Klimaproblem zu lösen. Die oft als sozial-ökologische Wandelprozesse beschriebenen Veränderungen begleitet der Autor und Diplom-Kaufmann Jendrischik intensiv. Als „Clean Planet Advocat“ bringt sich der gebürtige Heidelberger nicht nur in sozialen Netzwerken wie Twitter / X oder Linkedin und Facebook über die Cleanthinking-Kanäle ein.