Der deutsch-französische Regionalzug Coradia iLint ist seit Sommer 2022 in Niedersachsen im Passagier-Einsatz. Hydrogenics, Akasol und Linde als Zulieferer für Brennstoffzelle, Batteriepacks und H2-Tankstelle.
Es ist eine leise, beinahe lautlose Revolution, die sich in Norddeutschland zwischen Bremerhaven, Buxtehude, Cuxhaven und Bremervörde abspielt: Dort verkehren seit Sommer 2022 insgesamt 14 Wasserstoffzüge im Passagier-Betrieb. Der Wasserstoffzug Coradia iLint von Alstom kommt dort auf einem schwer zu elektrifizierenden Schienennetz zum Einsatz und ersetzt dieselbetriebene Züge im Regionalverkehr. Wichtige Partner des Verkehrswende-Projekts sind die Zulieferer Hydrogenics (Brennstoffzelle), Akasol (Batteriesysteme) und Linde (Wasserstoff und H2-Tankstelle).
Seit 2018 ist der Coradia iLint bereits im norddeutschen Raum zwischen Bremerhaven, Buxtehude, Cuxhaven und Bremervörde im Einsatz. Dabei steht die Abkürzung „Lint“ für „leichter, innovativer Nahverkehrstriebwagen“ während der Zusatz „i“ signalisiert, dass es sich hierbei um eine besonders clevere Variante des Zuges von Alstom handelt. Der Clou der Technologie liegt im gesamten Antriebsstrang sowie im Energiemanagement an Bord.
Beginnt der Coradia iLint seine Fahrt, sind kaum Geräusche zu vernehmen. Unter Umständen ist der Wasserstoffzug zu Beginn seiner Reise aber umhüllt von einer Abgas-Wolke. Diese besteht ganz umweltfreundlich lediglich aus Dampf und Kondenswasser. Sitzend Platz finden in dem innovativen Zug beim Zusammenschluss von zwei Triebwagen in Doppeltraktion 310 Passagiere – das sind sogar 30 Personen mehr als beim zuvor eingesetzten Diesel-Triebwagen des identischen Typs: Coradia Lint 41 von Alstom.
Die Reisegeschwindigkeit liegt zwischen 80 und 120 Kilometern pro Stunde (km/h), wobei die Spitzengeschwindigkeit von Alstom mit 140 km/h angegeben wird.
Alstom kommerzialisiert deutsch-französische Entwicklung
Mit dem Start des Passagier-Betriebes im Sommer 2022 gilt der Coradia iLint nicht mehr nur als erster Wasserstoffzug der Welt, sondern auch als erster entsprechender Zug, der im Alltag im Einsatz ist. Aus Sicht von Konzern-Chef Henri Poupart-Lafarge ist der Regionalzug ein „klares Bekenntnis zu grüner Mobilität in Verbindung mit modernster Technologie.“ Beleg für die nachhaltige Ausrichtung von Alstom ist die Aufnahme in die Indizes Dow Jones Sustainability World und Dow Jones Sustainability Europe.
Alstom entwickelt und baut Hochgeschwindigkeitszüge, U-Bahnen oder Straßenbahnen, und ist mit seinen Kunden auf dem Weg in eine kohlenstoffarme Zukunft. Während das Unternehmen seinen Hauptsitz in Frankreich und eine Präsenz in 70 Ländern global hat, ist der Coradia iLint in deutsch-französischer Co-Produktion entwickelt worden. Gebaut wird der moderne Zug im niedersächsischen Salzgitter, also unweit vom Schienennetz rund um Bremervörde, seinem ersten Einsatzort mit mehreren Triebwagen.
Neben den Wasserstoffzügen entwickelt Alstom auch rein batteriebetriebene Varianten, die auf bereits elektrifizierten Strecken eingesetzt werden.
LNVG und evg: Erster Eisenbahn-Linienverkehr mit Wasserstoff
Entscheidend für den Eisenbahn-Linienverkehr mit Wasserstoff im Elbe-Weser-Dreieck sind zwei Gesellschaften: Einerseits die evb, das steht für Eisenbahnen und Verkehrsbetriebe Elbe-Weser, und andererseits die Landesnahverkehrsgesellschaft Niedersachsen, kurz LNVG, die den Schienenpersonennahverkehr zwischen Nordsee und Harz. Zum Fahrzeugpool gehören neben den 14 Wasserstoffzügen von Alstom weitere 300 Wagen, Lokomotiven und Triebzüge, die an Eisenbahnunternehmen vermietet werden.
Die evb ist sowohl im Passagierverkehr regional als auch im Güterverkehr bundesweit aktiv. Das Unternehmen verfügt über ein mehr als 200 Kilometer langes, eigenes Streckennetz. Daneben auch Werkstätten zur Reparatur von Bus und Bahn. Damit befördert die Gesellschaft jedes Jahr sechs Millionen Fahrgäste im Elbe-Weser-Dreieck.
Technische Daten des Coradia iLint
Die grundlegende Technologie der Wasserstoffzüge vom Typ Coradia iLint ist einfach nachvollziehbar: Betrieben wird der Zug mit Wasserstoff-Brennstoffzellen von Hydrogenious. Diese Brennstoffzelle wandelt Wasserstoff und Sauerstoff in Wasser um, wobei Strom entsteht. Als Abgase entstehen lediglich Wasserdampf und Kondenswasser.
Diese elektrische Energie treibt den Elektromotor vom Wasserstoffzug von Alstom entweder direkt an oder versorgt die Verbraucher an Bord. Ist deren Bedarf gedeckt, gehen die Überschüsse in die Batteriesysteme, die vom deutschen Hidden Champion AKASOL AG geliefert werden. Die grundlegende Energie stammt also stets von der Brennstoffzelle, während die Batteriesysteme Überschüsse aufnehmen oder aber etwa beim Beschleunigungsvorgang aushelfen, wenn mehr elektrische Energie benötigt wird als durch die Brennstoffzelle geliefert werden kann. Zum Anfahren braucht der Zug 800 Kilowatt – die zwei pro Triebzug im Dach verbauten Brennstoffzellen leisten jeweils 200 Kilowatt.
Durch dieses komplexe Zusammenspiel zwischen Brennstoffzelle und Batterie kann die Hydrogenious-Komponente während der Fahrt am optimalen Betriebspunkt gefahren werden. Brennstoffzellen mögen es normalerweise nicht, wenn sie sehr schnell viel oder wenig Energie erzeugen sollen. Die Lithium-Ionen-Batteriesysteme von AKASOL stiften einen weiteren Nutzen: Sie ermöglichen die Rekuperation des Zuges, also die Rückgewinnung der Energie, die der Zug beim Bremsen freisetzt.
Technische Daten im Überblick:
- 310 Sitzplätze (bei Doppel-Triebzug)
- 140 km/h Maximalgeschwindigkeit
- 1.000 Kilometer Reichweite
- Antrieb: 2 * 367 Kilowatt
- Batteriesysteme von AKASOL
- Brennstoffzellen von Hydrogenious
- Wasserstoff-Tankstelle und H2 von Linde
Linde liefert den (grünen) Wasserstoff
Um die 14 Wasserstoffzüge Coradia iLint mit Wasserstoff versorgen zu können, hat der Industriegase-Spezialist Linde das weltweit erste Wasserstoff-Betankungssystem für Personenzüge entwickelt und in Betrieb genommen. Die Gesamtkapazität liegt den Angaben zufolge bei 1,6 Tonnen Wasserstoff pro Tag. Die 14 Züge haben dank der eingebauten Tanks, die den Wasserstoff bei 350 bar speichern, eine Reichweite von jeweils 1.000 Kilometern.
Die Anlage von Linde besteht aus vierundsechzig (!) 500-bar-Hochdruckspeichern mit einer Kapazität von 1.800 Kilogramm. Daneben werden sechs Wasserstoffverdichter und zwei Zapfsäulen geboten. Ein Kilogramm Wasserstoff ersetzt ungefähr 4,5 Liter Dieselkraftstoff.
Allerdings wird der Wasserstoff bislang noch von Linde nach Bremervörde geliefert. Zum Einsatz kommen Überreste des Gases aus chemischer Produktion. Perspektivisch soll direkt vor Ort auf Basis von Windstrom mit einem Elektrolyseur grüner Wasserstoff erzeugt werden. Dann wird die Geschichte rund um den Coradia iLint auch aus Umweltsicht so richtig rund.
Ist ein solcher Wasserstoffzug wirtschaftlich?
In Bremervörde müssen sich Alstom und die Betreiber der Wasserstoffzüge über die Wirtschaftlichkeit zunächst keine ganz großen Sorgen machen: Die 93-Millionen-Investition in die 14 Triebzüge wird überwiegend vom Land Niedersachsen und dem Bund getragen. Andere Interessenten wie die Gesellschaft RMV haben interessante Überlegungen zur Wirtschaftlichkeit des Coradia iLint aufgestellt.
Über einen Zeitraum von 25 bis 30 Jahren, die übliche Einsatzzeit für einen Zug, kann sich der Coradia iLint trotz höherer Anschaffungskosten rechnen. Der Grund hierfür ist der geringere Preis für Wasserstoff sowie die Erwartung, dass der Wasserstoff-Preis weniger stark steigen wird als der Diesel-Preis. Diese Überlegung bewahrheitet sich in der Realität der Gaskrise gerade.
Ganz konkrete Zahlen liegen zwar nicht vor – die Unternehmen gehen heute davon aus, dass sich der Brennstoffzellenzug nach etwa einem Drittel der Betriebsdauer gerechnet haben wird. Selbst wenn diese Prognose nicht eintritt, ist viel Luft bis zum Erreichen des Laufzeitendes, so dass vom wirtschaftlichen Betrieb ausgegangen werden kann.
Die Wirtschaftlichkeit hängt auch davon ab, woher der Wasserstoff letztlich kommt. Der hessische Betreiber RMV möchte den Wasserstoff, der im Chemiepark Hoechst als Abfallprodukt anfällt, zur Betankung einsetzen. Für die Umweltbilanz wäre allerdings per Elektrolyse mit Ökostrom produzierter grüner Wasserstoff besser. Für die Wirtschaftlichkeit ist der „kostenlose“ Wasserstoff aus der Industrie sinnvoller.
Interessant ist der erwartete Verbrauch des Zuges, von dem die RMV auf Basis von Alstom-Tests ausgeht: Für 26 Züge rechnet der RMV mit einem Tagesbedarf von 2,2 Tonnen Wasserstoff. Das sind 0,18 bis 0,28 Kilogramm je Kilometer, variierend je nach Strecke und Fahrplan. Somit liegen die Fahrtkosten pro Kilometer bei sensationellen 6,50 Euro.
Teure Elektrifizierung bringt Markt für Coradia iLint
Der Markt für wasserstoffbetriebene Züge ist in vielen Ländern weltweit vorhanden. Allein in Deutschland sind lediglich 60 Prozent der Strecken elektrifiziert – bis 2025 soll dieser Anteil auf etwa 70 Prozent ausgebaut werden. Aber: Der Bau von Oberleitungen ist teuer und kostet mehr als eine Million Euro pro Kilometer. Beschränkungen wie Landschaftsschutz oder Streckenbegrenzungen tragen ebenfalls dazu bei, dass das Potenzial für den Coradia iLint erheblich ist.
Auch der Rhein-Main-Verkehrsverbund RMV hat sich längst für die Technologie aus Niedersachsen entschieden: Ab 2022 sollen die Strecken im Taunus mit 26 Wassserstoffzügen befahren werden. Daneben haben auch die Bundesländer Schleswig-Holstein sowie Brandenburg und die Metropolregion Leipzig grundsätzliches Interesse am Einsatz vom Coradia iLint signalisiert.
Internationales Interesse am Wasserstoffzug
Doch nicht nur national weckt der Brennstoffzellenzug Coradia iLint großes Interesse. Laut LNBV-Chef Rainer Peters gibt es Anfragen aus Japan, Russland, Indonesien, Kanada, England, Österreich, Norwegen und den Niederlanden. Reichlich Potenzial also, um mit dem ersten wasserstoffbetriebenen Regionalzug weiter eine leise Revolution anzuzetteln.
H2 statt Diesel: Durch den Einsatz der insgesamt 14 Wasserstoffzüge in der Region werden 1,6 Millionen Liter Diesel pro Jahr nicht mehr verbraucht. Das entspricht einer Emissions-Einsparung von 4.400 Tonnen Kohlendioxid. Im Sommer 2022 fahren zunächst fünf der Züge, bis Jahresende 2022 sollen alle 14 Coradia iLint zum Einsatz kommen.
Martin Ulrich Jendrischik, Jahrgang 1977, beschäftigt sich seit mehr als 15 Jahren als Journalist und Kommunikationsberater mit sauberen Technologien. 2009 gründete er Cleanthinking.de – Sauber in die Zukunft. Im Zentrum steht die Frage, wie Cleantech dazu beitragen kann, das Klimaproblem zu lösen. Die oft als sozial-ökologische Wandelprozesse beschriebenen Veränderungen begleitet der Autor und Diplom-Kaufmann Jendrischik intensiv. Als „Clean Planet Advocat“ bringt sich der gebürtige Heidelberger nicht nur in sozialen Netzwerken wie Twitter / X oder Linkedin und Facebook über die Cleanthinking-Kanäle ein.