Saubere Fakten 2: So steht es wirklich um Deutschlands Stromimporte 2023

Stimmt die Behauptung, dass Deutschland seit dem Atomausstieg auf immer mehr Import von Strom angewiesen ist? Bild-Zeitung und Politiker wie Jens Spahn und Alice Weidel vertreten diese These.

In Deutschland grassiert das Fieber der Desinformation zum Thema Deutschlands Stromimporte 2023. Politiker wie Jens Spahn von der CDU und Alice Weidel von der AfD behaupten auf Basis von Schlagzeilen der Bild-Zeitung: Deutschland kommt ohne Stromimporte aus Frankreich nicht mehr aus. Das verschlechtere die CO2-Bilanz und sorge für teure Strompreise – alles ein Ergebnis des Ausstiegs aus der Atomkraft. „Satte 82 Prozent unseres Strombedarfs müssen unsere europäischen Nachbarn decken.“ Aber stimmen diese Aussagen wirklich?

Dieser Cleanthinking-Beitrag über Deutschlands Stromimporte 2023 basiert auf einem sehr guten Twitter-Thread von Klaus Steinfelder, der als @Kl_Stone bei Twitter aktiv ist. Ihm zu folgen, ist auf jeden Fall lohnenswert.

Im ersten Schritt in der Debatte über Stromimporte, Deutschlands Energieunabhängigkeit und hohe Strompreise, die den Standort Deutschland bis zur Deindustrialisierung gefährden, sind hier beispielhaft Tweets von Jens Spahn und Alice Weidel zu finden, die sich auf den Bild-Artikel unter der Überschrift „Immer mehr Strom aus dem Ausland: Die Frust-Bilanz des AKW-Aus“ beziehen.

Der Befund aus Sicht der Springer-Presse und dieser Politiker?

  • Teure Strompreise – Standort Deutschland unter Druck
  • mehr Abhängigkeiten
  • mehr CO2-Ausstoß als nötig
  • Eigene und sichere Versorgung wird vollständig sabotiert
  • statt Strom aus Kernenergie Stromimport aus dem Ausland
  • „Satte 82 Prozent unseres Strombedarfs müssen unsere europäischen Nachbarn decken.“
  • Deutschland ist nicht mehr in der Lage, den nationalen Strombedarf mit heimisch erzeugtem Strom zu decken.

Strom-Import-Quote: BILD errechnet eine imaginäre Strom-Import-Quote auf Basis der Anzahl der Tage, an denen Strom importiert wurde. Man vergleicht den Zeitraum Januar bis 16. April 2023 mit dem Zeitraum 16. April 2023 bis 12. Juni 2023 (wegen Atomausstieg). Demnach soll diese Strom-Import-Quote von 22 Prozent auf 82 Prozent angestiegen sein.

Deutschlands Stromimporte 2023: Fakten werden ignoriert

Der Vergleich dieser unterschiedlichen Zeiträume Winter vs. Frühjahr einerseits und die energiewirtschaftlichen Fakten, werden vollkommen ignoriert. Es hat überhaupt keine Aussagekraft, an wie vielen Tagen Deutschland Strom importiert hat. Und schon gar nicht kann darüber die Aussage getroffen werden, der Stromimport „sei nötig“ gewesen.

Im Gegenteil: Deutschlands Stromimporte 2023 können im europäischen Verbundnetz vor allem ökonomisch und im Hinblick auf die Versorgungssicherheit sinnvoll sein. Deutschland ist ein Stromtransitland innerhalb Europas. Letztlich würde ich daher eher eine Strom-Import-Quote von 100 Prozent erwarten – wenngleich diese „Größe“ vollkommen irrelevant ist.

Und tatsächlich: Betrachtet man den Monat April, reift die Erkenntnis, dass Deutschland schlicht jeden Tag Strom importiert hat – aus welchem Grund auch immer, das spielt für die unsinnige „Strom-Import-Quote“ keine Rolle.

Im Nachfolgenden mehr Details aus dem genannten Thread bei Twitter.

1. Haben sich seit dem Atomausstieg die CO2-Emissionen der deutschen Stromerzeugung erhöht?

Nein. Das Gegenteil ist der Fall. Die Monate nach dem Atomausstieg (Mai 23 und Juni 23) hatten mit 331g bzw. 355g/KWh weit unterdurchschnittliche Werte. Das Tagesergebnis vom 01. Juli 23 (194g/KWh) dürfte das Beste in der bisherigen deutschen Stromerzeugung sein Die Ursachen sind vielfältig. Sehr gutes Wetter für erneuerbare Energien, viel Wind & Sonne, erfolgreiche Substitution von Kohle durch Importe.

2. Also importieren wir nun tatsächlich Strom?

Wir haben schon immer Strom importiert. Und exportiert. Der europäische Stromhandel funktioniert so, dass man das meistens beides sogar zeitgleich macht. Wir importieren z.B. Strom aus Dänemark und Norwegen, und exportieren z.B. zeitgleich Strom nach Tschechien und Frankreich.

Seit 2003 ist Deutschland Jahr für Jahr Nettoexporteur, d.h. Deutschland exportiert mehr Strom als es importiert. Dies ist aktuell auch für 2023 insgesamt noch so, seit April 23 überwiegt jedoch der Import.

3. Also brauchen wir doch Importe um unseren Strombedarf zu decken?

Nein. Überhaupt nicht. Hier ein Überblick über unsere Kraftwerksleistungen in Gigawatt (GW):

  • Wasser 5 GW;
  • Pumpspeicher 9 GW;
  • Biomasse 9 GW;
  • Braunkohle 19 GW;
  • Steinkohle 19 GW;
  • Öl 5 GW;
  • Erdgas 34 GW

=> Zusammen 100 Gigawatt die komplett auch in tiefster Nacht und bei Windflaute abgerufen werden können, da Wind- und Sonnenstrom hier gar nicht mitgezählt werden. Demgegenüber steht ein Bedarf von meist etwa 70 Gigawatt in der Tagesspitze und rund 40 bis 45 Gigawatt in der Nacht um 3 Uhr.

4. Aber wenn im „worst case“ mal ungewöhnlich viel Strom gebraucht wird?

Die Bedarfsspitze beim Strom in Deutschland lag in den letzten acht Jahren bei 80,8 GW. Das war am 30. Nov. 2021 um 12:15 Uhr. Daneben gab es in diesen acht Jahren noch 2018 und 2016 je einen Tag >80 GW Bei einer vorhandenen Kraftwerkskapazität von 100 GW (91 GW wenn man die Pumpspeicher nicht rechnet) wären auch diese extremen Spitzen leicht zu stemmen. Und dies alles, ohne Wind und Sonne mit einzurechnen, also auch bei winterlichen Dunkelflauten.

5. Warum importieren wir überhaupt Strom, wenn wir genügend Strom selbst produzieren könnten?

Im europäischen Stromhandel importiert man in der Regel Strom nicht wegen mangelnder Möglichkeiten Strom herzustellen. Sondern weil der Import billiger ist als die Eigenproduktion.

6. Und warum fiel die Zunahme der Importe dann zeitlich ungefähr mit dem Atomausstieg zusammen?

Auch dies hat Marktgründe. Für die Deckung des Bedarfs werden immer zuerst die (nach Betriebskosten) günstigsten Quellen herangezogen. Dies sind zuerst die Erneuerbaren Energien. Früher kamen in dieser Reihung danach die Atomkraftwerke und erst dann, wegen der hohen Kosten für Brennstoffe und CO2-Zertifikate, die fossilen Kohle und Gaskraftwerke.

Nun kämen nach den erneuerbaren Energien als einheimische Kraftwerke gleich die fossilen Kraftwerke dran, die aber von günstigeren Importangeboten mit Strom aus dänischer Windkraft, Schweizer Wasserkraft oder auch französischen Atomkraftwerken größtenteils aus dem Markt gedrängt werden – was auch gut ist: Ökonomisch und für das Klima. Aus diesen Gründen ist seit April auch der fossile Anteil im Strommix deutlich gesunken.

7. Und welchen Anteil hat der Importstrom an unserer Bedarfsdeckung?

In den Monaten Mai und Juni 2023, den ersten Monaten nach dem Atomausstieg lag der Importanteil an der Bedarfsdeckung bei 10 bis 12 Prozent (nicht bei 82 Prozent, wie Alice Weidel behauptet). Jetzt, in den ersten Juli-Tagen, überwiegt aufgrund des guten Wetters gerade wieder der Export.

8. Wie setzt sich der Importstrom zusammen?

Der größte Teil stammt aus Erneuerbaren Energien, etwa 20 Prozent ist Atomstrom. Die drei größten Lieferländer sind die Schweiz, Dänemark und Frankreich.

Diese Abbildung zeigt, wie der Stromhandel zwischen Deutschland und Frankreich funktioniert:

9. Wird der Importanteil langfristig sinken?

Das ist wahrscheinlich und hängt von der Geschwindigkeit unseres Zubaus an günstigen EE-Erzeugern, also PV- und Windkraftanlagen sowie auch künftig Geothermie-Anlagen ab. Generell muss man aber sagen, dass der Stromimport im europäischen Stromhandel kein Makel ist, sondern das, wofür dieses System geschaffen wurde.

Und es ist höchst vernünftig, über dieses System billigen EE-Strom zu importieren, anstatt teuren und dreckigen Kohlestrom selbst zu produzieren.

Der hier dargestellte Kontext „Saubere Fakten II“ über Deutschlands Stromimporte 2023 und die Energiewende zeigt, wie falsch die Aussagen der Bild-Zeitung, des energiepolitischen Sprechers der CDU-Bundestagsfraktion, Jens Spahn, und der AfD-Chefin Alice Weidel sind. Hier soll mit bewusster Täuschung suggeriert werden, Deutschland habe ein Stromproblem. Das Gegenteil ist richtig. Übrigens hat auch DER SPIEGEL das Thema Deutschlands Stromimporte 2023 in ähnlicher Art und Weise aufbereitet.

Martin Ulrich Jendrischik, Jahrgang 1977, beschäftigt sich seit mehr als 15 Jahren als Journalist und Kommunikationsberater mit sauberen Technologien. 2009 gründete er Cleanthinking.de – Sauber in die Zukunft. Im Zentrum steht die Frage, wie Cleantech dazu beitragen kann, das Klimaproblem zu lösen. Die oft als sozial-ökologische Wandelprozesse beschriebenen Veränderungen begleitet der Autor und Diplom-Kaufmann Jendrischik intensiv. Als „Clean Planet Advocat“ bringt sich der gebürtige Heidelberger nicht nur in sozialen Netzwerken wie Twitter / X oder Linkedin und Facebook über die Cleanthinking-Kanäle ein.

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