Dynamische Strombelastbarkeit: Der Schlüssel zu einem effizienten Stromnetz in der Energiewende

Die Energiewende stellt unser Stromnetz vor immense Herausforderungen. Der Ausbau erneuerbarer Energien drängt, doch der Netzausbau kommt nicht hinterher. Eine neue Studie der VDE ETG zeigt nun einen alternativen Weg auf: die dynamische Strombelastbarkeit des bestehenden Netzes. Anstatt Milliarden in neue Leitungen zu investieren, könnten wir die vorhandenen einfach intelligenter nutzen.

Der Hintergrund: Um die Klimaziele zu erreichen, müssen wir den Ausbau der erneuerbaren Energien massiv vorantreiben. Gleichzeitig werden konventionelle Kraftwerke abgeschaltet und das Verbrauchsverhalten ändert sich. Das führt zu Engpässen im Stromnetz, die bisher oft mit Redispatch – also dem Herunterregeln von Erzeugungsanlagen – behoben werden. Die VDE-Studie schlägt eine effizientere Lösung vor: die dynamische Strombelastbarkeit.

Was bedeutet „dynamische Strombelastbarkeit“?

Vereinfacht gesagt bedeutet es, dass die Strombelastbarkeit eines Betriebsmittels nicht statisch ist, sondern sich dynamisch an die jeweiligen Bedingungen anpasst. Anstatt die Belastungsgrenze auf Basis von Worst-Case-Szenarien festzulegen, berücksichtigt man bei der dynamischen Strombelastbarkeit auch aktuelle Faktoren wie die Umgebungstemperatur, den Wind oder die vorherige Belastung. So kann die Kapazität des Netzes deutlich erhöht werden, ohne die Sicherheit zu gefährden.

Jedes Betriebsmittel im Stromnetz – ob Kabel, Transformator oder Freileitung – hat Reserven. Diese liegen zum Teil bei über 140 Prozent! Die Studie zeigt, wie wir diese Reserven gezielt nutzen können, indem wir die Betriebsmittel stärker belasten als bisher. Dabei müssen natürlich die technischen Grenzen beachtet werden, um inakzeptable Risiken für Mensch, Umwelt und Technik auszuschließen.

Wie funktioniert die dynamische Strombelastbarkeit in der Praxis?

Die Studie beleuchtet die geänderten Beanspruchungen der Netzbetriebsmittel durch die höhere Auslastung, die sich in vier Kategorien einteilen lassen:

  1. Strombelastungen: Die Betriebsmittel werden über ihren Bemessungsstrom hinaus belastet.
  2. Mechanische Beanspruchung: Schalter, Kontaktbahnen und andere bewegliche Bauteile werden häufiger betätigt.
  3. Spannungsbelastungen: Die Spannung übersteigt die maximal zulässige Grenze.
  4. Harmonische Ströme und Spannungen: Oberschwingungen führen zu erhöhten thermischen Belastungen.

Um diesen Herausforderungen zu begegnen, setzt die dynamische Strombelastbarkeit auf innovative Lösungen wie kurative Betriebsführungskonzepte, witterungsabhängigen Freileitungsbetrieb und intelligente Überwachungs- und Assistenzsysteme.

Konkrete Maßnahmen zur Erhöhung der dynamischen Strombelastbarkeit:

Die folgende Tabelle aus der VDE-Studie zeigt, wie die dynamische Strombelastbarkeit bei verschiedenen Betriebsmitteln erreicht werden kann:

BetriebsmittelThermische BegrenzungBerechnung und NormenVorgehensweiseErhöhung der Strombelastbarkeit¹
KabelEntfestigung und Schmelzen des Isoliermaterials1. Thermisch äquivalentes Ersatzschaltbild (DIN VDE 0276)
2. Mit Wärmekapazitäten (IEC 60287)
3. Multi-Physics Simulation
1. Ausschöpfen der Reserven nach VDE 0276
2. Genaue Rechnung mit therm. Ersatzschaltbild
3. Genaueste Rechnung mit Multi-Physics-Simulation
Dauerhafte Erhöhung nach Messung des Erdboden-Wärmewiderstands
25 – 60 %
TransformatorBeschleunigte Alterung des Öl-Papier-IsoliersystemsThermisches Ersatzschaltbild nach IEC 60076 „Loading Guide“Nutzung der zyklischen Auslastung nach IEC 60076-7, ergänzend mit Online-Berechnung des Heißpunktes, dabei gelten:
Obere Öltemperatur < 105 °C
Hotspot-Temperatur < 120 °C
50 % (< 100 MVA)
30 % (> 100 MVA)
FreileitungMechanische Entfestigung und zu großer Durchhang der LeiterseileBerechnung von Wärmegewinnen (Leiter, Strahlung) und Verlusten (Wind, Strahlung), DIN EN 501821. Witterungsgeführter Freileitungsbetrieb
2. Überwachung durch Sensoren
Witterungsabhängig bis 58 %
SchaltanlageEntfestigung insbesondere der Konstruktions- und Isolier-WerkstoffeThermisches Ersatzschaltbild, keine bekannten Normen für zyklische Belastbarkeit1. Dauerhafte Erhöhung durch verbesserte Kühlung in Absprache mit dem Hersteller
2. Online-Überwachung durch Sensoren
15 %
Tabelle: Übersicht der Maßnahmen zur Erhöhung der dynamischen Strombelastbarkeit

Dynamische Strombelastbarkeit: Herausforderungen und Chancen

Die dynamische Strombelastbarkeit bringt auch Herausforderungen mit sich. Erfahrungswerte zum Alterungsverhalten und zur Ausfallwahrscheinlichkeit der Netzkomponenten verlieren an Gültigkeit und müssen neu bewertet werden. Die genaue Überwachung des Netzes wird daher umso wichtiger. Auch rechtliche Hürden müssen überwunden werden, um die dynamische Strombelastbarkeit im großen Stil zu ermöglichen.

Trotz dieser Herausforderungen bietet die dynamische Strombelastbarkeit enormes Potenzial für die Energiewende. Durch eine intelligente Nutzung der bestehenden Infrastruktur können wir den Netzausbau optimieren, Kosten sparen und die Versorgungssicherheit gewährleisten.

Lesen Sie hier die ganze Studie der VDE ETG.

Martin Ulrich Jendrischik, Jahrgang 1977, beschäftigt sich seit mehr als 15 Jahren als Journalist und Kommunikationsberater mit sauberen Technologien. 2009 gründete er Cleanthinking.de – Sauber in die Zukunft. Im Zentrum steht die Frage, wie Cleantech dazu beitragen kann, das Klimaproblem zu lösen. Die oft als sozial-ökologische Wandelprozesse beschriebenen Veränderungen begleitet der Autor und Diplom-Kaufmann Jendrischik intensiv. Als „Clean Planet Advocat“ bringt sich der gebürtige Heidelberger nicht nur in sozialen Netzwerken wie Twitter / X oder Linkedin und Facebook über die Cleanthinking-Kanäle ein.

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