Habeck und die Atomkraft: Fakten widersprechen Cicero und Bild-Behauptungen zu Frankreich-Brief

Der heraufziehende Wahlkampf in Deutschland könnte schmutzig werden. Wie schmutzig – das zeigen heute die konservativen Medien Bild und Cicero, denen die Wirtschafts-, Energie- und Klimapolitik von Vizekanzler Robert Habeck ein Dorn im Auge ist. Sie unterstützen seit Jahren die Kräfte, die Deutschlands Atomausstieg für einen Fehler halten. Jetzt behaupten die beiden Medien auf Basis eines Briefes von Habeck an die französische Energieministerin, Habeck habe um französischen Atomstrom „gebettelt“. Habeck und die Atomkraft: Was sagen die Fakten?

Laut dem Cicero-Artikel „Habeck hoffte auf französischen Atomstrom“ (Cicero Plus) sowie dem Bild-Beitrag „Bettelte Habeck um französischen AKW-Strom?“ schrieb Robert Habeck am 8. August 2022 einen Brief an seine damalige französische Amtskollegin Agnès Pannier-Runacher, in dem er nachfragte, ob er es richtig erinnere, dass das Ziel der französischen Regierung sei, zum 1. November 2022 40 Gigawatt AKW-Leistung und zum 1. Januar 2023 50 Gigawatt am Netz zu haben.

In ihrer Antwort am 19. August bestätigte Pannier-Runacher lediglich, es sei das Ziel Frankreichs, Anfang 2023 eine Kapazität von mindestens 50 Gigawatt zu erreichen. Dazu dürfe aber, so die sinngemäße Antwort, nichts dazwischenkommen. Aufgrund dieser Unsicherheit folgten im Bundeswirtschaftsministerium weitere Entscheidungen: Der Stresstest der Übertragungsnetzbetreiber wurde vorsichtig mit 40 Gigawatt beauftragt und zunächst entschieden, zwei der drei noch am Netz befindlichen AKW als Reserve zu belassen („Einsatzreserve“). Der Atomausstieg wurde also um mehrere Monate hinausgezögert.

Diesen Brief aus dem BMWK bauschen Cicero und Bild zur Schlagzeile auf. Im Brief geht es auch um das Thema Gasversorgung (Quelle: Cicero).

Wenig später entschied Bundeskanzler Olaf Scholz, dass alle drei AKW in einem Streckbetrieb bis 15. April 2023 versetzt werden sollten. Scholz löste damit einen Konflikt zwischen FDP und Grünen – ließ aber keinen Zweifel daran, den Atomausstieg finalisieren zu wollen.

„Bild“ stellt gar die Frage, ob Habeck für französischen AKW-Strom „gebettelt“ habe – das soll an die Fehlbehauptungen der Zeitung, Deutschland sei zum Strombettler geworden, anknüpfen.

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Frankreich, Habeck und die Atomkraft: Wie war die Lage in 2022?

Zum Zeitpunkt des Briefes hatte Frankreich große Probleme mit seinen Kernkraftwerken. Zeitweise waren 32 von 56 Atommeilern abgeschaltet – einerseits wegen turnusgemäßer Wartung, aber auch wegen Korrosions-Problemen sowie Wassermangel in der Sommerhitze. Deutschland hingegen war in der Situation, dass es rasch Gas beschaffen musste, weil die Lieferungen von Putin durch dessen Angriffskrieg wegbrachen. Das Wort von Habeck, Deutschland habe ein Gasproblem, kein Stromproblem ist weithin bekannt.

Im Jahr 2022 war es also laut Bundesnetzagentur Deutschland, dass seine Gaskraftwerke laufen ließ, um Frankreich mit Strom auszuhelfen. So beschrieb der Deutschlandfunk am die Lage 28. September 2022 im Artikel „Strom gegen Gas – die deutsch-französische Energiefreundschaft:

In der ersten Hälfte des Jahres 2022 hat Deutschland sogar deutlich mehr Strom produziert als hierzulande verbraucht wurde. Große Produktionszuwächse gab es laut Statistischem Bundesamt bei Kohle (17,2 Prozent) und bei erneuerbaren Energien (12,1 Prozent). Fast die Hälfte des Stromes wurde aus erneuerbaren Energien produziert. Und erstmals seit Beginn der Statistik im Jahr 1990 führte Deutschland mehr Strom nach Frankreich aus als in umgekehrter Richtung importiert wurde. Dass Strom sowohl im- als auch exportiert wird, liegt daran, dass so Schwankungen im Netz ausgeglichen werden.
Allerdings wurde auch verstärkt Gas verstromt, um den französischen Markt beliefern zu können, sagte der Präsident der Bundesnetzagentur, Klaus Müller, Ende August in der ZDF-Talkshow „Markus Lanz“. Das habe mit „nachbarschaftlicher Solidarität“ zu tun, sei aber „unter Gas-Gesichtspunkten nicht wünschenswert“. Nach Daten von Smard, dem Energieportal der Bundesnetzagentur, wurden im Juli 2022 in Deutschland 4.036 Gigawattstunden aus Erdgas produziert, im Juli 2021 waren es nur 3.555 Gigawattstunden.

Es gab also einen klaren Deal zwischen Deutschland und Frankreich: Deutschland hilft Frankreich beim Stromproblem, während Frankreich Deutschland beim Gasproblem behilflich ist. Oder kurz: „Europäische Solidarität.“

Das alles bestätigt, wie sorgsam Habeck und sein Ministerium um die europäische Versorgungssicherheit bemüht war. Das Land stand bereit, Frankreich auch im Winter 22/23 wesentlich stärker mit Strom zu helfen. Auch oder gerade deshalb blieben die Atomkraftwerke noch über den Streckbetrieb am Netz.

Wie Cicero Stimmung gegen Habeck macht

Cicero versucht nun, diesen „brisanten“ Brief aufzubauschen – mit einem reißerischen Artikel. Mit Aussagen wie „der bisher geheim gehaltene Brief“, „Geheimsache“, „brisante Details“ oder „Dass dieses Schreiben für den Grünen-Politiker […] peinlich werden kann“ wird der Eindruck erweckt, irgendetwas solle vertuscht werden.

Daneben argumentiert Cicero durchgehend falsch, was die angebliche deutsche Abhängigkeit von Atomstrom aus Frankreich betrifft. Daniel Gräber schreibt u.a.:

  • Seitdem der Atomausstieg vollendet wurde, ist eher Deutschland auf den Import von französischem Strom angewiesen. Und der stammt zu fast 70 Prozent aus Kernkraftwerken.
  • Für die Grünen, das zeigt nun auch der Brief an die Ministerin in Paris, scheint nahezu jedes Mittel Recht gewesen zu sein, um den Atomausstieg als ihren historischen Sieg zu retten. Und sei es französischer Atomstrom.

Doch diese Aussagen sind – ebenso wie die Strom-Bettler-Frage der Bild-Zeitung – fragwürdig. Denn Deutschland importiert seit dem Atomausstieg zwar mehr Strom als es exportiert. Aber dieser Strom ist laut Handelsblatt im Jahr 2023 zu mehr als der Hälfte Erneuerbaren-Strom und nur zu einem Viertel überhaupt Atomstrom. Deutschland importiert den Großteil seines Stroms aus Ländern mit einem hohen Anteil an erneuerbaren Energien, wie z.B. Skandinavien. Dies zeigt der Handelsblatt-Artikel „Fünf Grafiken zu Deutschlands Stromimporeten“ vom 23.10.2023. Der Anteil des Atomstroms am deutschen Stromimportmix ist gering.

Das entspricht auch der Logik der deutschen Stromimporte: Diese finden überwiegend dann statt, wenn im europäischen Verbund günstiger Strom vorhanden ist, der günstiger ist als es der deutsche Strom aus Gas- oder Kohlekraftwerken wäre. Das ist deshalb besonders wichtig, weil der teuerste Anbieter an der Strombörse den Marktpreis bestimmt (Merit Order).

Die Energiekooperation zwischen Deutschland und Frankreich also erfolgte im Kontext der europäischen Solidarität und der Stabilität des europäischen Stromnetzes. Es ging nicht darum, dass Deutschland von französischem Atomstrom abhängig war, sondern darum, die Energieversorgung in ganz Europa sicherzustellen.

Cicero stellt Energiesituation verzerrt dar

Der Cicero-Artikel stellt die Situation also verzerrt dar und erweckt den falschen Eindruck, Deutschland sei auf französischen Atomstrom angewiesen gewesen oder heute noch angewiesen. Tatsächlich war es umgekehrt: Frankreich benötigte deutsche Hilfe in Form von Strom aus Gaskraftwerken, um seine Energieversorgung zu sichern – das belegt sogar die weitere Korrespondenz der Energieminister, die Cicero zitiert.

Habecks Anfrage an die französische Energieministerin war legitim und diente der Sicherstellung der deutschen und europäischen Energieversorgungssicherheit.

Es bleibt die Frage, warum Cicero ein solches Zerrbild der Energiekooperation zwischen Deutschland und Frankreich zeichnet. Ist es ein Versuch, die Energiewende zu diskreditieren und die Atomkraft zu propagieren? Oder soll Robert Habeck und die Grünen gezielt angegriffen werden?

Eine Vermutung ist angesichts der aktuellen Medienberichterstattung von FAZ, NIUS oder Bild naheliegend: Zahlreiche Medien versuchen derzeit Stimmung für eine neue Atompolitik Deutschlands zu erzeugen. Angeheizt von Kanzler-Kandidat Friedrich Merz, der eine Prüfung vornehmen möchte, ob die abgeschalteten AKWs wieder angeschaltet werden können, soll der Eindruck vertieft werden, Deutschlands Energiewende sei gescheitert und könne nur durch Atomenergie gerettet werden.

Mehr dazu gibt es hier, und hier und dort auf dem X-Kanal von Cleanthinking. Die Beiträge zeigen, dass von atomfreundlichen Protagonisten mit Desinformation um sich geschmissen wird.

Habeck und die Atomkraft: Diskutieren Sie in den Kommentaren mit, welche Motive es geben könnte!

Martin Ulrich Jendrischik, Jahrgang 1977, beschäftigt sich seit mehr als 15 Jahren als Journalist und Kommunikationsberater mit sauberen Technologien. 2009 gründete er Cleanthinking.de – Sauber in die Zukunft. Im Zentrum steht die Frage, wie Cleantech dazu beitragen kann, das Klimaproblem zu lösen. Die oft als sozial-ökologische Wandelprozesse beschriebenen Veränderungen begleitet der Autor und Diplom-Kaufmann Jendrischik intensiv. Als „Clean Planet Advocat“ bringt sich der gebürtige Heidelberger nicht nur in sozialen Netzwerken wie Twitter / X oder Linkedin und Facebook über die Cleanthinking-Kanäle ein.

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