Klimaneutralität 2050: Wie viel grünen Strom braucht Deutschland?
Forscher schätzen, dass der Nettostromverbrauch auf dem Pfad zu 95-prozentiger Klimaneutralität um 80 Prozent wächst.
Im Jahr 2050 soll Deutschland die Klimaneutralität erreichen. Dafür ist exorbitant mehr grüner Strom notwendig – denn emissionsfreie Technologien brauchen vor allem eines: Elektrische Energie. Wissenschaftler vom Forschungszentrum Jülich haben nun einmal überschlagen, welche Mengen elektrischer Energie insbesondere die Industrie benötigt, um klimaneutral zu werden.
Wie die Deutsche Presse-Agentur unter Berufung auf die Studie meldet, haben die Forscher sich angesehen, wie hoch der Strombedarf ist, wenn der Treibhausgas-Ausstoß bis 2050 um 95 Prozent reduziert wird. Demnach liegt der Nettostromverbrauch dann bei 1.008 Terawattstunden – ein Anstieg um 80 Prozent im Vergleich zu heute.
Treiber dieser Entwicklung sind nicht etwa Elektroautos oder Wärmepumpen, sondern vielmehr die energieintensiven Industrie-Bereiche Stahl, Zement und Chemie. Dort müssen Produktionsprozesse komplett über den Haufen geworfen werden. Abgelöst werden können sie teilweise durch elektrische Verfahren wie die Elektrolyse – also durch den Ersatz etwa von Kohlenstoff durch per Elektrolyse hergestellten grünen Wasserstoff.
Chemische Industrie: Gigantischer Strombedarf
Für Klimaneutralität in seiner Branche kalkuliert beispielsweise der Verband der Chemischen Industrie mit einer Vervielfachung des Strombedarfs: Von heute 54 Terawattstunden auf 628 Terawattstunden in 2050. Dieser kommt zustande, weil die Chemische Industrie für sechs Grundchemikalien die gesamte Prozesskette verändern würde. Die dafür notwendigen Prozesse sind bekannt, aber viele dieser notwendigen Technologien müssen nach skaliert werden. In dem Extremszenario wird auf die neuen Wege bereits gesetzt, selbst wenn sie noch nicht wirtschaftlich sind.
2050 ist eine weitgehend treibhausgasneutrale Chemieproduktion in Deutschland technologisch vorstellbar. Dafür müssen aber alle Voraussetzungen stimmen: Unternehmen können die Transformation hin zu null Emissionen nur vorantreiben, wenn sie in jeder Phase wettbewerbsfähig bleiben und über große Mengen erneuerbaren Stroms zu niedrigen Kosten verfügen können.
Klaus Schäfer (-> Linkedin), Vorsitzender des VCI-Ausschusses Energie, Klimaschutz und Rohstoffe
Stahlindustrie: Kohle durch Wasserstoff ersetzen
Auch in der Stahlbranche laufen Vorbereitungen darauf, bis 2050 klimaneutral zu werden. In den Hochöfen bei der Erzeugung von Rohstahl werden heute große Mengen Kohle verwendet – aus deren Einsatz im Produktionsprozess CO2 entsteht. Statt CO2 würden die Hüttenwerke Wasserdampf in die Luft blasen, wenn die Prozesse so umgestellt würden, dass insbesondere grüner Wasserstoff genutzt wird.
Der zusätzliche Strombedarf liegt dafür nach Angaben der dpa bei 130 Terawattstunden pro Jahr. Alleine hierfür wären 12.000 zusätzliche Windräder an Land nötig. Das erscheint gerade im Augenblick reichlich unrealistisch, wenn man bedenkt, dass der Ausbau der Windkraft in Deutschland fast völlig zum Erliegen gekommen ist.
Im 95-Prozent-Szenario ist laut den Forschern vom FZ Jülich eine Kraftwerkskapazität von 471 Gigawatt erforderlich. Im Jahr 2018 waren 118 Gigawatt erneuerbare Erzeugungskapazität installiert. Diesen Angaben folgend müssten pro Jahr 11,5 Gigawatt zusätzlich installiert werden. Zum Vergleich: Zwischen 2008 und 2017 gab es einen Zubaupfad von acht Gigawatt pro Jahr.
Hinzu kommt: Die Kapazität ist nur bedingt vergleichbar zwischen heutigem und künftigem Kraftwerkspark, weil erneuerbare Energien nicht rund um die Uhr erzeugt werden. Auch die Stromerzeugung aus einer Einheit Photovoltaik ist beispielsweise geringer als aus einer Einheit Biomasse oder Windkraft.
Klar ist angesichts dieser Größenordnungen: Mit dem jetzigen Ausbaupfad und den gesellschaftlichen Einschränkungen wird der Strombedarf nicht allein in Deutschland gedeckt werden können – zumal die Industrie günstige Strompreise benötigt. In 2050 muss also ein Teil des Strombedarfs über Importe von Elektrizität oder grünem Wasserstoff oder synthetischen Kraftstoffen gedeckt werden.
Die wichtigsten Zahlen zu Klimaneutralität 2050
- Nettostromverbrauch 2050: 1.008 Terawattstunden (+80 Prozent)
- Strombedarf Chemiebranche 2050: 628 Terawattstunden (+1.162 Prozent)
- Strombedarf Stahlbranche 2050: 130 Terawattstunden zusätzlich; Kosten: 30 Milliarden Euro
Für die Zementindustrie liegen keine spezifischen Zahlen vor. Der WWF hat sich in dieser Studie mit den notwendigen Maßnahmen befasst.
Martin Ulrich Jendrischik, Jahrgang 1977, beschäftigt sich seit mehr als 15 Jahren als Journalist und Kommunikationsberater mit sauberen Technologien. 2009 gründete er Cleanthinking.de – Sauber in die Zukunft. Im Zentrum steht die Frage, wie Cleantech dazu beitragen kann, das Klimaproblem zu lösen. Die oft als sozial-ökologische Wandelprozesse beschriebenen Veränderungen begleitet der Autor und Diplom-Kaufmann Jendrischik intensiv. Als „Clean Planet Advocat“ bringt sich der gebürtige Heidelberger nicht nur in sozialen Netzwerken wie Twitter / X oder Linkedin und Facebook über die Cleanthinking-Kanäle ein.