Wie ausgerechnet die Atomikerin Vero Wendland Staatssekretär Michael Kellner kritisiert – und dabei eine beinahe historische Fehlleistung schafft.
Die Versuche der Springer-Presse, also von BILD-Zeitung und DIE WELT, die Energiewende zu diskreditieren, werden immer dreister. Unter dem Titel „AKW-Expertin zerpflückt grüne Strom-Lüge“ versucht Wirtschaftsredakteur Philip Fabian, den Staatssekretär Michael Kellner der „grünen Strom-Lüge“ zu überführen. Da Philip Fabian, der das journalistische Handwerkszeug in Frankfurt gelernt hat, sich offensichtlich mit der Energiewende nicht auskennt, geht die angebliche Entlarvung von Desinformation gnadenlos nach hinten los.
Der Wirtschaftsredakteur Philip Fabian nutzt für seine Geschichte einige Tweets der Historikerin Vero Wendland, die Michael Kellner, immerhin Staatsekretär im Bundeswirtschaftsministerium, dreist angeht – und dabei die Fakten so verdreht, wie sie gerade braucht. Der Autor dieses „Artikels“ fällt auf die Tricks der Buchautorin und Atomikerin Vero Wendland in jeder Hinsicht herein. Aber der Reihe nach.
Ausgangspunkt für die ganze Aufregung rund um diese Energiewende-Geschichte von Atom-Lobbyisten ist dieser kurze und korrekte Tweet von Michael Kellner:
Der Staatssekretär von Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck stellt dem Alten das Neue gegenüber. Die Zahlen stimmen offensichtlich – beides bezieht sich auf dieses Jahr. Im April wurden drei Atomkraftwerke abgeschaltet, die noch ungefähr eine Nennleistung von 3,3 Gigawatt hatten. Daneben werden in diesem Jahr bis zu 12 Gigawatt Photovoltaik-Nennleistung zugebaut. So faktisch, so wahr.
Es sei denn, man ist die Bild-Zeitung. Das unseriöse Boulevard-Blatt behauptet: „Doch das stimmt nicht einmal ansatzweise.“ Eine Erklärung, welche der genannten Zahlen nicht mal „ansatzweise“ stimmen sollte, bleibt das Blatt der Energiewende-Gegner schuldig.
Stattdessen kommt Vero Wendland ins Spiel. Sie twitterte als Antwort auf Michael Kellners richtige und wahrheitsgemäße und faktenbasierte Aussage: „Sie haben drei Kleinigkeiten unterschlagen …“ Und dann kommen keine drei Kleinigkeiten, sondern vier Bullet-Points, in denen es angeblich eine Erklärung für das zuvor Geschriebene geben soll. Schauen wir mal.
Es seien nicht bloß 3,3 Gigawatt (durch die letzten drei AKW) abgeschaltet worden, sondern 21 Gigawatt AKW-Gesamtleistung – also mehr als das Sechsfache.
Es geht los mit dieser offensichtlichen Veräppelung des geneigten Lesers. Während sich Kellner auf das Jahr 2023 bezieht, behauptet Wendland nun, die sechsfache AKW-Leistung sei abgeschaltet worden. In welchem Zeitraum? Nicht erwähnt. Warum ausgerechnet 21 Gigawatt? Vero Wendland bezieht sich allen Ernstes auf die Leistung der Kernkraftwerke, die Deutschland 2010 hatte – also vor Fukushima. Im Jahr nach Fukushima waren es übrigens noch zwölf Gigawatt installierte Leistung (Quelle BDEW, siehe unten).
Lesen Sie auch: Atomausstieg Gesetz: Betrieb der AKWs endet 15. April 2023 (cleanthinking.de)
Vielleicht muss man mit Frau Wendland nachsichtig sein – denn sie ist ja Historikerin. Aber bei Licht betrachtet, ist die Art der Argumentation vollkommen absurd. Und Bild stört es nicht im geringsten. Doch damit nicht genug: Es wird noch absurder.
Um diese zu ersetzen, würde nicht einmal eine Kapazität von 31 Gigawatt Solarstrom reichen –also das 2,6 bis 3,1-fache dessen, was Kellner als bisher in diesem Jahr installierte Kapazität rühmt.
Okay, also erst wirft man eine ziemlich zufällige Zahl aus dem Jahr 2010 in den Raum, um dann schlau kundzutun, dass 31 Gigawatt Solarstrom nicht ausreichen würden, um 21 Gigawatt Atomstrom zu ersetzen. Logisch: Atomstrom wird fortlaufend erzeugt, die Sonne scheint nicht immer. Hier wird der Beweis geführt für eine völlig banale Aussage, die jedem bewusst sein müsste, der unfallfrei bis 3 zählen kann.
Sondern: Es müssten auch noch Speicher her, um den produzierten Solarstrom für mehrere Monate „einlagern“ zu können, bis er gebraucht wird – das ist technisch bislang nicht machbar.
Aus absurd wird grotesk: Jetzt soll Solarstrom monatelang eingelagert werden: „Das ist technisch bislang nicht machbar.“ Wendland oder Fabian ist offenbar entgangen, dass Solarstrom in der Regel zwischengespeichert wird, um beispielsweise die fehlende Solarstromerzeugung in der Nacht aus dem Batteriespeicher auszugleichen.
Für saisonübergreifende Speicherung von überschüssigem Strom zur Nutzung im Winter, wird vielmehr Windstrom benutzt, der ansonsten abgeregelt werden müsste. Und die technische Machbarkeit der Umwandlung von Windstrom in Wasserstoff zur chemischen Langzeitspeicherung ist natürlich technisch längst nachgewiesen. Grotesk ist die Ahnungslosigkeit, die aus dieser verunglückten Argumentationskette hervorgeht.
Und dann wird es nahezu investigativ:
Aber nicht nur das: Die Photovoltaik-Anlagen würden ein Vierteljahr lang „bei null dümpeln“, schreibt sie. Heißt: Wenn in Deutschland nicht genug Sonne scheint, produzieren die Solaranlagen kaum Strom.
Jetzt wird festgestellt, dass Photovoltaikanlagen im Winter viel weniger Strom erzeugen. Angesichts der zunehmend milderen Winter ein Umstand, der natürlich wahr ist, aber sich sozusagen im Angesicht des Klimawandels zugunsten der Photovoltaik entwickelt. Das soll aber nicht heißen, dass der menschengemachte Klimawandel zu begrüßen ist. Im Gegenteil – auf den zusätzlichen PV-Effekt würden wir alle sicherlich verdammt gern verzichten.
Wendland gibt nicht auf uns wiederholt ihre unsinnigen Aussagen:
„Sie haben 21 Gigawatt Kernenergie zu 5 bis 12 Gramm CO2-Ausstoß pro Kilowattstunde abgeschafft und tauschen sie gegen 25 Gigawatt Kohle- und Gaskraft zwischen 600 und 1000 Gramm CO₂-Ausstoß pro Kilowattstunde aus.“
Mir ist nicht bekannt, dass Michael Kellner im Jahr 2000 bereits Staatssekretär gewesen ist. Insofern ist der direkte Vorwurf an Kellner ziemlich daneben. Wieso die erneuerbaren Energien, die etwa im Jahr 2022 mit 230 Terawattstunden Leistung zur öffentlichen Nettostromerzeugung beitrugen, angeblich nicht als Ersatz für den Atomstrom dienten, wird für immer das Geheimnis der Historikerin bleiben.
Nachdem dann noch der durchaus wichtige Kapazitätsfaktor erklärt wird, wird der Beitrag durch den Wirtschaftsredakteur ohne Energiewende-Kompetenz mit einer weiteren, nahezu investigativen Erkenntnis beendet:
Nicht schlecht: „Der Autor wiederholt nochmal, dass in der Nacht die Sonne auf der Nordhalbkugel nicht scheint, ignoriert aber die Speichermöglichkeiten und vor allem eines: Solarstrom werde dann produziert, wenn die Sonne scheint. Wie praktisch, sagt der Energiewende-Experte: Dann, wenn wir Strom in unseren Stahlwerken brauchen, in unseren Büros oder um das Mittagessen zu kochen, haben wir Strom aus Sonnenenergie zur Verfügung. Ist das nicht genial? Ja, ist es.
Wie man angesichts dieser Argumentationskette zu einer solchen Schlagzeile kommen kann, ist mir indes schleierhaft. Was für eine historische Fehlleistung von BILD und Wendland:
Na gut. Eine Frage bleibt noch offen: Warum hat die Rechtschreibprüfung bei „dass Variable Erneuerbare Energien“ nicht angeschlagen, und wieso fehlt in der gesamten „Argumentationskette“ unter anderem die Windenergie? Die angebliche, grüne Strom-Lüge gibt es jedenfalls nicht. Gut, dass Michael Kellner Staatssekretär ist – und nicht Vero Wendland.
Martin Ulrich Jendrischik, Jahrgang 1977, beschäftigt sich seit mehr als 15 Jahren als Journalist und Kommunikationsberater mit sauberen Technologien. 2009 gründete er Cleanthinking.de – Sauber in die Zukunft. Im Zentrum steht die Frage, wie Cleantech dazu beitragen kann, das Klimaproblem zu lösen. Die oft als sozial-ökologische Wandelprozesse beschriebenen Veränderungen begleitet der Autor und Diplom-Kaufmann Jendrischik intensiv. Als „Clean Planet Advocat“ bringt sich der gebürtige Heidelberger nicht nur in sozialen Netzwerken wie Twitter / X oder Linkedin und Facebook über die Cleanthinking-Kanäle ein.