Bahnbrechendes, historisches Urteil folgt dem Spruch des Bundesverfassungsgerichts.
Die niederländische Organisation Milieudefensie hat den Energiekonzern Shell erfolgreich verklagt, die CO2-Emissionen schneller zu reduzieren. Ein Gericht in Den Haag stimmte der Klimaklage der Umweltschützer zu und formulierte ein bahnbrechendes, historisches Urteil. Demnach muss Shell seine CO2-Emissionen bis 2030 um 45 Prozent gegenüber dem Niveau von 2019 reduzieren. Zwar hatte Shell zuvor angekündigt, bis 2050 zu einem Netto-Null-Emissions-Unternehmen werden zu wollen – dem Gericht genügten die Pläne jedoch nicht. Jetzt muss der Konzern schneller aus der Verbrennung fossiler Ressourcen aussteigen als bislang geplant.
Ganz klar: Es handelt sich um das Urteil eines Bezirksgerichts. Shell hat bereits angekündigt, in Berufung zu gehen. Allerdings passt der Richterspruch in eine Reihe früherer Urteile etwa aus den Niederlanden oder erst vor drei Wochen vom Bundesverfassungsgericht, die ganz ähnlich argumentierten. Denn Shell hatte zuvor angekündigt, bis 2050 klimaneutral werden zu wollen – der Pfad dorthin ist dem Gericht aber wesentlich zu langsam.
Und: Erstmals wurde ein privates Unternehmen verpflichtet, sich an das Übereinkommen von Paris zu halten. Klagen gegen Total und andere, vergleichbare Konzerne sind längst auf dem Weg. Weitere Urteile ähnlicher Art werden folgen – ganz gleich, wie ein Berufungsgericht in den Niederlanden den Fall Shell entscheiden wird. Shell hatte sich zum Ziel gesetzt, bis 2035 seine Emissionen um mindestens 30 Prozent zu reduzieren.
Das Urteil kommt in einer Phase, in der die Klimawissenschaftler immer mehr Kenntnisse darüber haben, dass entscheidende Klima-Kipppunkte unmittelbar bevorstehen. Daher muss – dazu legte die Internationale Energie-Agentur eine Roadmap vor – die ökologische Transformation jetzt mit hoher Dynamik umgesetzt werden. Derzeit befindet sich die Welt auf einem Pfad einer Erderwärmung vom 2 bis 2,5 Grad Celsius bis 2100 gegenüber 1990. Die Wissenschaft zieht eine klare Grenze: Jeder Erwärmung stärker als 1,5 Grad ist ein hochriskantes Spiel mit dem Feuer.
Um was für eine Klimklage geht es?
2019 hatten sieben Umweltorganisationen, darunter auch Greenpeace und die niederländische Organisation Milieudefensie, eine Klimaklage gegen Shell eingereicht, die von mehr als 17.000 Bürgerinnen und Bürgern unterstützt wurde. Gemeinsam forderten sie vom Konzern, das Pariser Klimaabkommen umzusetzen. Die Umweltschützer warfen dem Unternehmen vor, pro Jahr etwa neun Mal mehr CO2 auszustoßen als der Staat Niederlande selbst.
Was hat der Richter in Den Haag entschieden?
Der Richter hat Milieudefensie in vielen Punkten Recht gegeben. Konkret weist das Gericht Shell an, die CO2 -Emissionen bis 2030 netto um 45 Prozent zu senken (gegenüber 2019). Shell muss sich auch bemühen, die CO2-Emissionen von Lieferanten und Kunden netto um 45 Prozent zu senken (2030). Und Shell muss dies durch Unternehmenspolitik tun. Dazu muss der Konzern neue Richtlinien schaffen.
Pikantes Detail: Die Reduktion schließt auch Emissionen ein, die durch von Shell verkaufte Produkte erzeugt werden – also beispielsweise Emissionen, die durch das Verbrennen von Erdöl verursacht werden, das der Konzern gefördert hat. Hier sieht das Gericht eine „Best-Effort-Verpflichtung“. Das bedeutet, Shell muss Kunden bessere Möglichkeiten geben, Alternativen zu nutzen.
Das Urteil orientiert sich am IPCC-Bericht, denn dieser verlangt die CO2-Emissionen bis 2030 um 50 Prozent zu reduzieren, um eine 50-Prozent-Chance zu haben, unter 1,5-Grad-Erderwärmung zu bleiben (ohne etwa Kipppunkte einzubeziehen).
Dazu forderte der Richter Shell dazu auf, die Entscheidung sofort umzusetzen. Die Verpflichtung gelte darüber hinaus nicht nur für die eigenen Unternehmen, sondern auch für Zulieferer und Endabnehmer.
Wer ist der Kläger: Milieudefensie?
„Wir sind die derzeit einflussreichste Klimaorganisation“, heißt es selbstbewusst auf der Webseite der Organisation. „Weil wir an die Macht der Menschen glauben. Gemeinsam sind wir stärker als die großen Umweltverschmutzer und verweilenden Politiker. Gemeinsam verändern wir die Niederlande. Milieudefensie: 50 Jahre jung, unabhängig und erfolgreich.“
Der Klage hatten sich weitere Umweltorganisationen und mehr als 17.000 Bürger der Niederlande angeschlossen.
Wie reagiert Shell auf das Klimaurteil?
Uneinsichtig. Der Konzern, der bis zum heutigen Tag 95 Prozent seiner Investitionen im Bereich Öl und Gas tätigt, stellt seine im Vergleich kleinen Investitionen im Bereich Erneuerbarer Energien, Elektromobilität oder Wasserstoff heraus. Reaktion von Shell im Wortlaut:
„Es sind dringende Maßnahmen gegen den Klimawandel erforderlich, weshalb wir unsere Bemühungen beschleunigt haben, bis 2050 im Einklang mit der Gesellschaft ein Null-Emissions-Energieunternehmen zu werden, mit kurzfristigen Zielen, um unsere Fortschritte zu verfolgen.“
„Wir investieren Milliarden von Dollar in kohlenstoffarme Energie, einschließlich Aufladen von Elektrofahrzeugen, Wasserstoff, erneuerbaren Energien und Biokraftstoffen. Wir wollen die Nachfrage nach diesen Produkten steigern und unser neues Energiegeschäft noch schneller ausbauen.
„Wir werden uns weiterhin auf diese Bemühungen konzentrieren und davon ausgehen, dass wir gegen die enttäuschende Gerichtsentscheidung von heute Berufung einlegen werden.“
Shell, Webseite
Reaktionen zum Klimaurteil aus Den Haag
Richterspruch als Präzedenzfall?
Die Klage niederländischer Bürger und Organisationen gegen Shell steht beispielhaft für andere Klagen, die nun folgen werden oder bereits kurz vor der Entscheidung stehen. Weltweit nehmen die Klagen für mehr Engagement in Sachen Umweltschutz zu.
Die London School of Economics nennen zwischen 1986 und Mai 2020 rund 1600 Klimaprozesse – die meisten davon in den USA. Seit den Protesten von Fridays for Future haben sich die Klagen vervielfacht. Mit dem Erfolg von Milieudefensie und der niederländischen Bürger werden weitere Organisationen ermutigt, ebenfalls Klage einzureichen. Das alte Spiel „David gegen Goliath“, das die kleinere Partei früher nicht gewinnen konnte, hat sich komplett gewandelt.
Martin Ulrich Jendrischik, Jahrgang 1977, beschäftigt sich seit mehr als 15 Jahren als Journalist und Kommunikationsberater mit sauberen Technologien. 2009 gründete er Cleanthinking.de – Sauber in die Zukunft. Im Zentrum steht die Frage, wie Cleantech dazu beitragen kann, das Klimaproblem zu lösen. Die oft als sozial-ökologische Wandelprozesse beschriebenen Veränderungen begleitet der Autor und Diplom-Kaufmann Jendrischik intensiv. Als „Clean Planet Advocat“ bringt sich der gebürtige Heidelberger nicht nur in sozialen Netzwerken wie Twitter / X oder Linkedin und Facebook über die Cleanthinking-Kanäle ein.