Experten fordern Abkehr vom Mischpreisverfahren bei Regelenergie, weil es die Kosten in die Höhe treibt, der Netzsicherheit schadet und gleichzeitig Erneuerbare Energien verdrängt.
Im Oktober 2018 gab es auf dem Regelenergiemarkt einen Systemwechsel mit verheerenden Auswirkungen. Das sogenannte Mischpreisverfahren gefährdet die Versorgungssicherheit, verdrängt Cleantech-Lösungen wie virtuelle Kraftwerke oder Demand-Side-Management und erhöht die Kosten für die Verbraucher. Allein am vergangenen Samstag lagen die Regelenergiekosten bei 17 Millionen Euro. Experten fordern den schnellen Wechsel zu dem von der EU vorgegebenen Regelarbeitsmärkten.
Die heutigen Schlagzeilen sind besorgniserregend: Von Blackout-Gefahr und gar chaotischen Zuständen im deutschen Stromnetz berichten Spiegel Online und FAZ. Der Grund: Im Juni kam es zu mindestens drei Situationen, in denen weniger Elektrizität über den Intradayhandel zur Verfügung stand, als nötig gewesen wäre, um die Netzfrequenz stabil zu halten. Notmaßnahmen im Zusammenspiel mit Partnern aus dem angrenzenden Ausland hätten einen Blackout verhindert, berichten die Übertragungsnetzbetreiber. Die Lage sei angespannt gewesen – mindestens am 6., 12. und 25. Juni.
Als Folge griffen die Übertragungsnetzbetreiber am vergangenen Freitag zu einer ungewöhnlichen Maßnahme: In einer Soderausschreibung erhöhten sie die ausgeschriebene Menge am Regelenergiemarkt, insbesondere im Bereich der positiven Minutenreserve. Ein Händler, der über eine große, zusätzliche Reserve an positiver Minutenreserve verfügte – vermutlich ein konventionelles Portfolio – bot im Markt sehr, sehr hohe Preise und erhielt trotzdem den Zuschlag: 37.856 Euro kostete die teuerste Megawattstunde am vergangenen Samstag. Am Sonntag brachte eine Megawattstunde Regelenergie 3.900 Euro, am Montag 1.000 Euro – normal sind zumeist 10 Euro.
Mischpreisverfahren bezieht Arbeitspreis mit ein
Soweit die Fakten. Aber was sind die tiefer liegenden Ursachen für die Probleme? Beim neuen Mischpreisverfahren wird nicht nur der Leistungspreis berücksichtigt (wie zuvor üblich), sondern auch der Arbeitspreis. Dadurch kommt es nach Angaben von Next Kraftwerke am Regelenergiemarkt zu Rückwirkungen auf den regulären Stromhandel.
Bereits im Januar 2019, also ein Quartal nach dem Systemwechsel hin zum Mischpreisverfahren warnte der digitale Versorger Next Kraftwerke, es sei Besorgnis erregend, dass extreme Netzsituationen seit der Einführung deutlich zugenommen hätten. Festmachen kann man die Aussage daran, wie häufig mehr als 80 Prozent der verfügbaren Regelenergie auch tatsächlich abgerufen werden.
In den ersten drei Quartalen 2018 war dies kein einziges Mal der Fall. Bis 25. Januar hingegen habe es 33 Viertelstunden gegeben, in denen das der Fall war. „Der Grund dafür ist“, so Jan Aengenvoort, Sprecher des Unternehmens gegenüber Cleanthinking.de, „dass im Mischpreisvefahren die Aktivierung von Regelenergie zum Ausgleich der eigenen Portfolio-Ungleichgewichte für Energieversorger günstiger ist als der Ausgleich über den Intraday-Handel.“ In der Folge würde mehr Regelenergie und weniger Strom im kurzfristigen Handel gehandelt.
Daraus entstehen höhere Kosten für die Verbraucher: Während die Kosten im Intraday-Handel zunächst von den Verursachern, also den Energieversorgern mit ihren Bilanzkreisen, zu tragen sind und wenn überhaupt anteilig auf die Konsumenten umgelegt werden, werden die Kosten für Regelenergie direkt auf die immer weiter steigende Netzumlage aufgeschlagen. Und die zahlen alle Stromverbraucher.
„Mischpreisverfahren führt zwangsläufig zu Erhöhung der Leistungspreise“
Für Prof. Claudia Kemfert, Leiterin der Abteilung Energie, Verkehr, Umwelt am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW Berlin), ist die Sache eindeutig: „Die Ursache für die Fehlentwicklung liegt in der verfehlten Änderung der Marktregulierung. Das Mischverfahren aus Leistungs- und Arbeitspreis führt zwangsläufig zu einer Erhöhung der Leistungspreise zur Vorhaltung der Minuten- und Sekundärreserve“, so Kemfert gegenüber Cleanthinking.de. Letztlich führe dieses System zu enormen Netzrisiken und erhöhtem Bedarf sowie Kosten von auszuschreibender Regelenergie.
Das neue Mischpreisverfahren im Regelenergiemarkt schadet der Netzsicherheit, treibt die Kosten in die Höhe und verdrängt erneuerbare Energien und andere Flexibilitätsoptionen wie Demand Side Management oder Speicher. Schlimmer noch: Es wird der Eindruck erweckt, die erneuerbaren Energien seien Schuld an dieser Entwicklung, dabei ist es die vermurkste Regulierung.
Prof. Dr. Claudia Kemfert, DIW Berlin
Zusammengefasst, da sind sich Marktteilnehmer wie Next Kraftwerke, Wissenschaftler wie Prof. Claudia Kemfert und Oppositionspolitikerin Ingrid Nestle einig: Das Mischpreisverfahren ist entscheidend verantwortlich für die deutlichen Probleme im deutschen Stromnetz und sollte schleunigst durch Regelarbeitsmärkte abgelöst werden. Das verlangt übrigens auch die EU-Kommission.
Bundesnetzagentur prüft Regelarbeitsmärkte
Derzeit prüft die Bundesnetzagentur einen entsprechend ausgearbeiteten Vorschlag der Übertragungsnetzbetreiber für ein solches, vermutlich effizienteres System, das weniger Raum für spekulatives Handeln lässt. „Schon im Februar haben wir Grüne auf das Problem mit einer Kleinen Anfrage hingewiesen. Die Bundesregierung hat die Warnsignale verschlafen und die Bedenken ignoriert. Die Bundesregierung muss die Fehlanreize in der Ausschreibungspraxis unverzüglich abstellen“, so Grünen-Politikerin Ingrid Nestle gegenüber Cleanthinking.de.
Die Bundesregierung indes kann die geballte Kritik von Opposition, Wissenschaft und Marktteilnehmern nicht nachvollziehen. Man setze sich dafür ein, den Anteil von Erneuerbaren-Energien-Anlagen an den Regelleistungsmärkten zu erhöhen, so die Aussage in einer Antwort auf die schon erwähnte Kleine Anfrage der Faktion Bündnis 90/Die Grünen von Anfang Februar 2019. Die Bundesregierung teile die Auffassung, es komme zu einer deutlichen Verlagerung der Kosten vom Arbeitspreis zum Leistungspreis, nicht.
Martin Ulrich Jendrischik, Jahrgang 1977, beschäftigt sich seit mehr als 15 Jahren als Journalist und Kommunikationsberater mit sauberen Technologien. 2009 gründete er Cleanthinking.de – Sauber in die Zukunft. Im Zentrum steht die Frage, wie Cleantech dazu beitragen kann, das Klimaproblem zu lösen. Die oft als sozial-ökologische Wandelprozesse beschriebenen Veränderungen begleitet der Autor und Diplom-Kaufmann Jendrischik intensiv. Als „Clean Planet Advocat“ bringt sich der gebürtige Heidelberger nicht nur in sozialen Netzwerken wie Twitter / X oder Linkedin und Facebook über die Cleanthinking-Kanäle ein.