Bis 2024 will das britische Cleantech-Unternehmen Octopus Energy in Deutschland eine Million Kunden mit Strom und Gas beliefern – und die Energiewende flexibel vorantreiben.
Der deutsche Strom- und Gasmarkt ist derzeit in deutlichen Turbulenzen: Anbieter wie Grünwelt Energie oder Gas.de mussten zuletzt die Belieferung der Kunden einstellen, zwischen den Jahren drohte eine Art Dammbruch, weil neben Discountern auch Großanbieter in Schieflage waren. Dann kam mit dem Jahreswechsel das windige Wetter, was zumindest die Strompreise an der Börse beruhigte. Mitten hinein in eine solch schwierige Phase auf den Energiemärkten kommt mit Octopus Energy ein schnell wachsender Anbieter auf den deutschen Markt, der zwar auch mit günstigen Strom- und Gasverträgen lockt, aber ein ganz anderes Geschäftsmodell hat als die bisherigen Discounter. Wer steckt hinter dem britischen Cleantech-Unternehmen Octopus Energy?
Octopus Energy ist ein moderner Energieversorger, weit mehr als ein Strom- und Gas-Reseller, wie so mancher Anbieter auf dem deutschen Energiemarkt. Das Cleantech-Unternehmen ist seit November 2020 auf dem deutschen Markt aktiv, und nutzt unter anderem den E-Auto-Pionier Tesla als Partner für die Vermarktung von Stromverträgen. Gemeinhin erfolgreich, wie die Briten Ende des Jahres 2021 mitteilten: Im ersten Jahr in Deutschland haben man Kunden „im oberen fünfstelligen Bereich“ gewonnen.
Doch die Pläne gehen viel weiter: Als Neuankömmling soll es gelingen, bis 2024 eine Million Kunden zu gewinnen, und langfristig mit Erneuerbarer Energie zu versorgen. Bis 2027 sollen dafür 1.000 Arbeitsplätze in Deutschland geschaffen werden. In den letzten Jahren häufen sich Markteintritte von innovativen Energieversorgern aus dem Ausland in den hiesigen Markt: Unternehmen wie aWATTar aus Österreich oder Tibber aus Norwegen sehen im deutschen Markt Potenzial, beispielsweise für Spezialtarife für Elektromobilität oder variable Tarife, deren Arbeitspreise an die Börsenstrompreise gekoppelt sind.
Die Herausforderung für diese neuen Anbieter liegt aber darin, die eigenen Betriebskosten so zu managen, dass am Ende attraktive Preise und Angebote für die Kunden herauskommen. Für aWATTar etwa waren die gestiegenen Großhandelspreise zuletzt ein Problem: Sie schränkten das Angebot für Neukunden Ende des Jahres ein. „Wir arbeiten daran, Neuabschlüsse bald wieder zu ermöglichen, und dies mit neuen spannenden Tarifoptionen speziell für Elektroautos und Wärmepumpen“, heißt es auf der Webseite des Energieversorgers.
Durch die unerwartet gestiegenen Handelspreise für Strom (und Gas) sind besonders die Anbieter in Liquiditäts-Nöte geraten, deren Geschäftsmodell darauf ausgerichtet ist, vor allem Vielwechsler für die eigenen Angebote zu gewinnen. Wer Lockangebote über Wechselprämien aussendet, gewinnt viele Neukunden – und muss, falls die Zahl der Neukunden höher als erwartet ist, zu enorm hohen Kosten zusätzlich Energie einkaufen. Das Geschäftsmodell zerbricht, wie etwa bei Grünwelt Energie / Stromio.
Energieversorger geht einen anderen Weg
Octopus Energy wirbt auch um Neukunden, geht aber einen anderen Weg: Das Cleantech-Unternehmen investiert ganzheitlich in die dezentrale, digitale und nachhaltige Energieversorgung der Zukunft. So hat Octopus eine eigene, digitale Plattform namens Kraken geschaffen, um flexibel innovative oder speziell auf Zielgruppen zugeschnittene Stromtarife anbieten zu können. Außerdem sucht Octopus Kooperationspartner wie etwa die Elia Group, um in intelligente und grüne Energienetze zu investieren.
Über die Plattform Kraken ist Octopus Energy auch in der Lage, die eigenen Kunden gezielt zu erreichen – etwa dann, wenn viel Ökostrom im Netz ist, und sowieso notwendige Energieverbräuche vorgezogen werden können. Britische Kunden erlebten genau das im vergangenen Mai: Damals rief der Energiedienstleister sie per Nachricht auf dem Smartphone auf, Strom zu verbrauchen – und bot ihnen dafür Geld an. Mehr als 70.000 Kunden folgten diesem Aufruf, und sorgten etwa mit spontan eingeschalteten Waschmaschinen dafür, dass weniger Strom abgeregelt werden musste.
Bekanntermaßen kommt es auch in Deutschland häufig vor, dass die Strompreise ins Negative rutschen – während aWATTar Verbräuche durch Day-Ahead-Preise in den günstigen Stunden anreizt, kann Octopus noch kurzfristiger reagieren. Diese Flexibilität ist zunehmend notwendig, um die Residuallast möglichst gering zu halten. Das ist der Teil des Energiesystems im Wandel, der nicht durch die Erzeugung erneuerbarer Energien abgedeckt werden kann.
Werden Überschüsse zum Vorziehen von Energieverbrauch genutzt, werden andersherum spätere Lastspitzen abgemildert. zu der Angebots-Steuerung im Energiesystem kommt eine weitere Komponente der Nachfrage-Steuerung („Demand Side Management“) hinzu, preislich bewusst angereizt.
Aber für die Endkunden ist nicht nur die so aktive Unterstützung der Energiewende attraktiv. Ausgestattet mit viel Wachstumskapital kann Octopus weiter in eigene Erzeugungsanlagen investieren, und so auch mittelfristig ausgerichtete Verträge bieten: Die Kombination von Vertragslaufzeit von einem Monat einerseits bei zeitgleicher Preisgarantie über 24 Monate ist nicht nur aus Sicht des Vergleichsportals Verivox attraktiv. Hinzu kommen moderate Preise.
Energiemanifest stellt Kunden ins Zentrum
Im unternehmenseigenen Energiemanifest, das sich auch an die verhandelnden Ampel-Koalitionäre im Oktober wendete, fordert das Unternehmen beispielsweise neben der Abschaffung der EEG-Umlage und der Stromsteuer alle weiteren Abgaben und Steuern auf Strom aufzugeben, um Strom mit Abstand zum günstigen Energieträger für jeden zu machen.
„Bis 2025 sollten Stromrechnungen nur noch aus direkten Kosten bestehen, d. h. aus Rohstoffkosten, Netzentgelten, Lieferantenkosten und der Mehrwertsteuer. Durch diese Maßnahmen würden die Stromrechnungen um 35,4 Prozent gesenkt, was einem durchschnittlichen Haushalt in Deutschland eine Ersparnis von knapp 350 Euro jährlich einbringen würde (Durchschnittshaushalt, Jahresverbrauch von 3.000 kWh und Ø Strompreisen vom Juni 2021).“
Letztlich stellt das Energieunternehmen also den Verbraucher in den Mittelpunkt seiner Bemühungen – und arbeitet konsequent an der Mission, den Übergang zu einem System auf Basis erneuerbarer Energien zu beschleunigen. Nicht nur diese Mission erinnert ziemlich an den großen Player Tesla aus den USA, der sich das Ziel gesetzt hat, den Übergang zu einer Welt auf Basis nachhaltiger Energie zu beschleunigen.
Al Gore investiert in Octopus Energy
Im Rücken hat die Octopus Energy Group keinen geringeren als den früheren US-Präsidentschaftskandidat Al Gore, der als Investor mit General Investment Management eine Finanzierungsrunde in Höhe von 500 Millionen Euro anführt. Er besaß zum Zeitpunkt des Investments rund 13 Prozent Anteile am Energieversorger der Zukunft. Ein schnöder Strom- und Gasanbieter, der eine Bewertung von vier Milliarden US-Dollar erreicht? Nur wenig später gewann Octopus Energy mit dem Canada Pension Plan einen weiteren Investor, der 300 Millionen US-Dollar beisteuerte.
Eine wirklich bemerkenswerte Entwicklung, die dazu führen könnte, dass das Geschäft der Strom- und Gas-Discounter zum Erliegen kommt. Aufgrund der gestiegenen Handelspreise müssen Stromkunden heute oft Wucher-Verträge akzeptieren, um nicht ohne Strom oder Gas dazustehen. Die Rabattschlacht bei Check24 und Verivox, ist zumindest vorerst beendet worden: statt dreistelliger Wechselprämien, gibt es derzeit noch ein paar Euro als Treuebonus nach einem Jahr.
Auch Octopus Energy wettert gegen „dubiose Praktiken“ auf dem Energiemarkt – und meint damit genau die Discounter, die jahrelang darauf spekuliert haben, kurzfristig billig Energie einkaufen zu können. Bislang ging das Geschäftsmodell auf. Derzeit nicht mehr, was die Kunden, die in die Grundversorgung fallen, teuer bezahlen müssen: Ein Versorger aus Nordrhein-Westfalen hob seine Preise für den Grundversorgungstarif am 22. Dezember auf etwas mehr als 99 Cent pro Kilowattstunde an.
Stromtarif mit Tesla
Ein Grund für den Erfolg von Octopus Energy Germany ist der im August 2021 gestartete Tesla-Stromtarif, der im Hintergrund von Octopus gesteuert wird. Die Nachfrage ist enorm, verkünden die beiden Unternehmen. Abschließen können den Tarif Tesla-Kunden, die eine Powerwall besitzen. Der Grundgedanke: Der Tesla soll dann automatisch laden, wenn der Strom gerade günstig ist. Der Kunde gewährt allerdings auch Zugriff auf die im Stromspeicher oder im Auto zwischengespeicherte Energie – seine Kosten sinken dafür.
Aktuell liege der Fokus des Unternehmens nicht auf Profitabilität, sondern man investiere so viel, wie möglich sei. Etwa in Wind- und Solaranlagen in mehreren europäischen Ländern oder in die Erweiterung der Software-Plattform Kraken. Hier agiert Octopus – ganz Tesla-like – eher als Digitalunternehmen, weniger als Energieversorger. Die Plattform bündelt alle Bereiche des Energieversorgungs-Geschäfts zentral an einer Stelle. Damit sollen Prozesse vereinfacht und Person gespart werden.
Damit der Ansatz von Octopus Energy funktionieren kann, ist der Rollout intelligenter Stromzähler die maßgebliche Voraussetzung. Doch bislang scheuen viele Kunden den finanziellen Aufwand. Octopus Energy Deutschland hofft, das Thema in 2022 gezielt anschieben zu können. Denn ab 2022 soll es auch in Deutschland Echtzeit-Tarife geben, die in Großbritannien bereits gut funktionieren – weltweit hat Octopus mehr als drei Millionen direkte Kunden sowie 14 Millionen weitere über die Lizenzierung der Kraken-Plattform an Energieversorger wie EON. Für Smart Meter-Kunden in Deutschland könnten bereits Anfang des Jahres erste Pilot-Tarife angeboten werden.
Octopus Energy will den deutschen Energiemarkt kräftig aufmischen – so viel ist klar. Ob der Plan gelingen wird, wird sich erst in den kommenden Jahren zeigen. Die Chancen stehen aus heutiger Sicht nicht allzu schlecht.
Martin Ulrich Jendrischik, Jahrgang 1977, beschäftigt sich seit mehr als 15 Jahren als Journalist und Kommunikationsberater mit sauberen Technologien. 2009 gründete er Cleanthinking.de – Sauber in die Zukunft. Im Zentrum steht die Frage, wie Cleantech dazu beitragen kann, das Klimaproblem zu lösen. Die oft als sozial-ökologische Wandelprozesse beschriebenen Veränderungen begleitet der Autor und Diplom-Kaufmann Jendrischik intensiv. Als „Clean Planet Advocat“ bringt sich der gebürtige Heidelberger nicht nur in sozialen Netzwerken wie Twitter / X oder Linkedin und Facebook über die Cleanthinking-Kanäle ein.