Alles oder Nichts bei COP28: Wie entscheidend Paragraph 35 ist
Durchbruch oder Blockade? Der erste Entwurf des Abschlussdokuments deutet auf einen mächtigen Showdown hin.
Die Weltgemeinschaft steht in diesen Tagen mit Paragraph 35 am Scheideweg: Bei der Weltklimakonferenz COP28 heißt es „Alles oder Nichts“ für die Lösung des Klimaproblems. Während Exxon-Chef Darren Woods sich in Dubai erstmals genötigt sieht, sein Geschäftsmodell zu verteidigen, legt die COP-Präsidentschaft rund um Öl-Unternehmer Sultan Al-Jaber einen ersten Entwurf eines Abschlussdokuments vor, der zu einem wirklichen Durchbruch beim Klimaschutz führen – oder durch Blockade von Paragraph 35 dessen faktisches Ende bedeuten könnte.
The Guardian hat Al-Jaber vor wenigen Stunden vorgeworfen, die Wissenschaft hinter dem Klimawandel mehr oder weniger zu leugnen. „Der Ausstieg aus Kohle, Öl und Gas würde die Welt „zurück in die Höhlen“ bringen“, wird Al-Jaber zitiert. Doch wenig später beteuert der COP-Präsident in einem gemeinsamen Statement mit Jim Skea, Chef vom Weltklimarat, es habe lediglich Missverstände gegeben und er stehe voll hinter der Klimawissenschaft. Es sei schwer zu verkraften, so Al-Jaber sinngemäß, dass die Arbeit der COP28-Präsidentschaft immer wieder untergraben werde.
Der heute vorgelegte, erste Entwurf des Abschlussdokuments und die bisherigen Erfolge an den ersten Tagen zeigen, dass die COP-Präsidentschaft durchaus ambitionierte Politik machen möchte. So sind bereits 58 Milliarden US-Dollar für die Klimafinanzierung durch private Investoren und Staaten zugesichert worden – 30 Milliarden davon allerdings direkt zum Start vom Gastgeberland Vereinigte Arabische Emirate höchst selbst.
Problem dabei: Die Öl- und Gaskonzerne haben bislang nur sehr wenig zur Finanzierung der Transformation hin zu erneuerbaren Energien beigetragen, wie die Internationale Energie-Agentur herausgefunden hat (siehe Zitat unten) – und 58 Milliarden sind verglichen mit den jährlichen Gewinnen von Aramco, Exxon, Total und Co. kein übergroßer Beitrag.
Das Abschlussdokument der von den Vereinten Nationen ausgerichteten Weltklimakonferenz 2023 besteht aus 24 Seiten und 193 Paragraphen. Es geht im Entwurf, der nun für mehr als eine Woche zwischen den gegensätzlichen Parteien diskutiert wird, um viele Verständigungen der Weltgemeinschaft, um das Pariser Übereinkommen von 2015 zu konkretisieren. Grundlage dafür ist auch eine Bestandsaufnahme, die zur Klimakonferenz vorgelegt wird – sowie zahlreiche neue wissenschaftliche Erkenntnisse der Klimawissenschaft in den vergangenen Monaten.
Um das Dokument zu verstehen, muss man begreifen, dass es stets eine oder mehrere Optionen mit mehr oder weniger klarem Text gibt – aber häufig auch die Option „No text“, was dann, würden es die 197 Länder beschließen, zu keiner Verbesserung beim Kampf gegen die Erderwärmung führen würde.
Auf die Öl- und Gaserzeuger entfallen nur 1 % der Gesamtinvestitionen in saubere Energie weltweit. Mehr als 60 % davon stammen von nur vier Unternehmen, die zu den Tausenden von Öl- und Gasproduzenten gehören, die es heute weltweit gibt. Derzeit ist die Öl- und Gasindustrie als Ganzes eine marginale Kraft beim Übergang zu einem sauberen Energiesystem.
Internationale Energie-Agentur
Paragraph 35: Alles oder Nichts bei COP28
Die Aufgabe der kommenden Woche ist gewaltig. Unter den Delegierten befinden sich 2.456 Vertreter der fossilen Industrie, die naturgemäß wenig Interesse an einem schnellen Ausstieg aus fossilen Energieträgern haben. Und genau darum geht es in Paragraph 35, dem vielleicht entscheidenden Abschnitt für die Zukunft der Menschheit in den kommenden 100 und mehr Jahren.
Eingeleitet wird Paragraph 35 wie folgt:
Aufforderung an die Vertragsparteien, in diesem kritischen Jahrzehnt weitere Maßnahmen zu ergreifen:
Danach folgt der erste „Alles oder Nichts“-Absatz:
Verdreifachung der weltweiten Kapazität an erneuerbaren Energien bis 2030 im Vergleich zu bis 2022 auf 11.000 Gigawatt und Verdoppelung der durchschnittlichen jährlichen Rate der Verbesserung der Energieeffizienz gegenüber dem Stand von 2022 auf 4,1 Prozent bis 2030.
Dem Ausbau der erneuerbaren Energien haben in den ersten Tagen der Weltklimakonferenz weit mehr als 100 Länder zugestimmt. Die Wahrscheinlichkeit, dass der Paragraph 35 a durchgehen wird, ist also relativ hoch. Entscheidend wird aber sein, wie sich die Blockierer verhalten werden – speziell Saudi-Arabien, China und Russland. Bringen sie durch ihr Veto diesen Absatz zum Platz droht die zweite Option: „No text“.
Es folgt mit Paragraph 35 b einer, der im Sinne der fossilen Industrie sein dürfte, die stark auf Carbon Capture and Storage setzt – für viele Wissenschaftler und Sachverständige ein Versuch, einen Freifahrtschein für das weiter ungezügelte Verbrennen fossiler Brennstoffe zu erhalten – denn selbst wenn die technischen Probleme rund um CCS gelöst sein sollten: Es ist in diesen großen Maßstäben sündhaft teuer, wie auch Prof. Christian Stöcker in seiner Spiegel-Kolumne herausgearbeitet hat.
Derzeit liegen die globalen Kapazitäten für Kohlendioxid aus der Umgebungsluft, in der Fachsprache als Direct Air Capture bezeichnet, bei 0,01 Megatonnen pro Jahr. Zum Vergleich: Die jährlichen CO2-Emissionen der Menschheit belaufen sich auf 36.800 Megatonnen. Die Wissenschaft ist sich daher weitgehend einig: DAC oder CCS können nur das letzte Mittel sein, um unvermeidbare Emissionen auszugleichen.
So heißt es in Paragraph 35 b konkret:
Erhebliche weltweite Ausweitung von emissionsfreien und emissionsarmen Technologien bis 2030 Technologien, einschließlich Technologien zur Emissionsminderung und -beseitigung, einschließlich Kohlenstoff-Abscheidung, -nutzung und -speicherung sowie kohlenstoffarmer Wasserstofferzeugung.
Letztlich keine besonders umstrittene Aussage – sie beantwortet aber nicht die Frage, ob CCS frei und überall, etwa auch in der Energieversorgung, genutzt werden darf oder nur dort, wo etwa die Dekarbonisierung der Industrie besonders schwierig ist. Für Letzteres plädiert etwa der dänische Klimaschutzminister Dan Jørgensen im Spiegel-Interview.
Weiter geht es mit Paragraph 35 c – entscheidend dafür, ob der Ausstieg aus fossilen Energieträgern schnell gelingen kann. Nach neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen muss der Ausstieg aus Kohle, Öl und Gas bis 2030 folgen, um noch eine Chance auf Einhaltung der Pariser Klimaziele zu haben.
Konkret gibt es drei Optionen in diesem Absatz des Entwurfs der Abschlussvereinbarung von COP28 – auch hier gibt es wieder die Option „kein Text“:
Option 1:
Option 1: Ein geordneter und gerechter Ausstieg aus fossilen Brennstoffen
Option 2: Beschleunigung der Bemühungen um einen schrittweisen Ausstieg aus fossilen Brennstoffen und um rasche Verringerung ihrer Nutzung, um bis etwa Mitte des Jahrhunderts einen Netto-CO2-Ausstoß in Energiesystemen oder um die Mitte des Jahrhunderts zu erreichen.
Der Unterschied der beiden textlichen Varianten ist klar und überdeutlich. Option 1 wäre ein ganz klares Signal, wie es zuletzt von COP27 ausging: Seitdem gehen Investitionen in Kohlekraftwerke zurück. Ähnliches würde passieren, würde von den Delegierten Option 1 gewählt.
Option 2 wäre besser als die „Kein-Text“-Variante, aber letztlich völlig unzureichend, um den Klimawandel so einzudämmen, wie es notwendig erscheint.
Fazit: Wie entscheidend Paragraph 35 ist
Das Wohl der Menschheit, ich denke das kann man ohne allzu große Übertreibung konstatieren, ist entscheidend verbunden mit Paragraph 35 – dem Alles oder Nichts-Absatz des Abschlussdokuments. Bei aller Vorsicht der Analyse – natürlich können sich die Texte noch in jeder Hinsicht ändern: Gerade die Leitung durch den Vertreter der fossilen Industrie könnte sich zum Trumpf erweisen. Journalistin Susanne Götze hält es in ihrem Artikel für möglich, dass der Wille Al-Jabers, als erfolgreicher COP-Präsident in die Geschichte einzugehen, seine eigene Rolle als CEO eines Ölkonzerns kurzfristig in den Hintergrund drängen könnte.
Die kommenden Tage werden zeigen, ob COP28 dank Paragraph 35 mit einem Schub für saubere Technologien und etwa den Klimaclub von Bundeskanzler Olaf Scholz endet, oder die Welt im Angesicht eines fossilen Festivals dem Abgrund entgegen taumelt…
Martin Ulrich Jendrischik, Jahrgang 1977, beschäftigt sich seit mehr als 15 Jahren als Journalist und Kommunikationsberater mit sauberen Technologien. 2009 gründete er Cleanthinking.de – Sauber in die Zukunft. Im Zentrum steht die Frage, wie Cleantech dazu beitragen kann, das Klimaproblem zu lösen. Die oft als sozial-ökologische Wandelprozesse beschriebenen Veränderungen begleitet der Autor und Diplom-Kaufmann Jendrischik intensiv. Als „Clean Planet Advocat“ bringt sich der gebürtige Heidelberger nicht nur in sozialen Netzwerken wie Twitter / X oder Linkedin und Facebook über die Cleanthinking-Kanäle ein.