Rechtsstreit in Ilmenau: Familie muss Wohnung verlassen
Ilmenauer Wohnungsbaugenossenschaft (WBG) mit erfolgreicher Räumungsklage – und seltsamen Infos rund um Balkonkraftwerke.
Neues Balkonkraftwerk Gerichtsurteil: Im thüringischen Ilmenau muss eine fünfköpfige Familie ihre Wohnung nach einer erfolgreichen Räumungsklage der Ilmenauer Wohnungsbaugenossenschaft verlassen. Mehr als zwei Jahre dauerte der Rechtsstreit in Ilmenau um ein Balkonkraftwerk in Thüringen. Der dreifache Familienvater hatte 2020 zwei Solarmodule und LKW-Batterien ohne Zustimmung des Vermieters installiert – und diese nach zwei Gerichtsurteilen nicht wieder abgenommen.
Immer wieder gibt es in Deutschland Rechtsstreitigkeiten zwischen Vermietern und Mietern, weil diese über die Installation eines Balkonkraftwerks ihre Stromkosten reduzieren wollen. Dabei können sich Mieter auf das sogar im Grundgesetz verankerte Staatsziel des Umweltschutzes berufen. Doch nicht jeder Rechtsstreit um ein Balkonkraftwerk endet zugunsten der Mieter.
Im Grundgesetz heißt es konkret:
Der Staat schützt auch in Verantwortung für die künftigen Generationen die natürlichen Lebensgrundlagen und die Tiere im Rahmen der verfassungsmäßigen Ordnung durch die Gesetzgebung und nach Maßgabe von Gesetz und Recht durch die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung.
Quelle: Gesetze im Internet
Rückbauklage: Urteil eines Stuttgarter Gerichts
Unter Berufung auf dieses Staatsziel hatte vor einigen Monaten beispielsweise ein Stuttgarter Gericht eine Klage eines Vermieters, das Balkonkraftwerk wieder abzunehmen, zurückgewiesen. Dem „vertragswidrigen Gebrauch“ des Balkons stand laut Amtsgericht das Recht auf Duldung der Solaranlage unter bestimmten Voraussetzungen gegenüber. Hierzu zählte das Gericht:
- die baurechtliche Zulässigkeit
- keine optische Störung
- die leichte Rückbaubarkeit
- eine fachmännische Installation ohne Verschlechterung der Mietsache
- und schließlich, dass keine erhöhte Balkonkraftwerk Brandgefahr oder sonstige Gefahr von der Anlage ausgeht.
Mehr zu Vorteilen der Balkonkraftwerke dort.
Kuriose Vorschriften der Wohnungsbaugenossenschaft
Die Ilmenauer Wohnungsbaugenossenschaft steht „auch Balkonkraftwerken offen gegenüber.“ Das versicherte Vorstand Peter Sattler heute auf Cleanthinking-Anfrage. Dabei beruft sich das Unternehmen auf die Beachtung der „für uns geltenden bau-, versicherungs- und verkehrssicherungsrechtlichen Bestimmungen“ sowie die Einhaltung der Kriterien der DIN VDE V 0100-551.1 für steckerfertige PV-Anlagen.
Bedeutet konkret: Das Balkonkraftwerk darf nicht über einen Schuko-Stecker angeschlossen werden, sondern nur über eine berührungssichere Wieland-Einspeisesteckdose. Und, ähnlich wie im Rechtsstreit in Stuttgart: Die Anlage muss sturmsicher sein, keine optische Störung verursachen und muss von einer Elektrofachkraft installiert werden. Hierüber, so Peter Sattler weiter, habe man im Mietermagazin auch die eigenen Mieter informiert.
Doch jetzt wird es kurios! Im Mietermagazin „Daheim“ (Ausgabe 8-2022) schreibt die WBG Ilmenau: „Der Strom muss Eins-zu-eins verbraucht werden, ein Speicher oder die Einspeisung ins Hausnetz sind nicht zulässig.“
Nach dieser Vorgabe kann ein Mieter ein Balkonkraftwerk 600W nur dann installieren, wenn er Stromverbraucher hat, die in den Sommermonaten stets mehr Energie verbrauchen als über die Solaranlage ins Wohnungsnetz eingespeist wird. In einer kleinen Wohnung erscheint das kaum realistisch – gerade um 12 Uhr mittags, wenn die Kinder noch in der Schule und die Eltern noch bei der Arbeit sind.
Die Regel, die die Genossenschaft hier gegenüber den Mietern verkündet macht schlicht keinen Sinn.
Aber es wird noch kurioser: Denn auf der Webseite hat die Wohnungsbaugenossenschaft Ilmenau einen Leitfaden zu „steckfertigen PV-Anlagen“ veröffentlicht. Und darin heißt es unter 12. (siehe Abbildung), dass bei Einbau eines Zweirichtungszählers sowie der Anmeldung der Anlage bei Bundesnetzagentur und örtlichem Netzbetreiber „eine Einspeisung ins öffentliche Stromnetz zulässig“ ist. Wie aber der am Balkon einer Wohnung erzeugte, überschüssige Solarstrom aus dem Hausnetz ins öffentliche Netz kommen soll, wenn die Einspeisung ins Hausnetz „nicht zulässig“ ist, erklärt die Wohnungsbaugenossenschaft allerdings nicht.
Rechtsstreit um Balkonkraftwerk in Ilmenau
Aber zurück zum Rechtsstreit um ein Balkonkraftwerk in Ilmenau, von dem die südthüringische Presse heute berichtete. Darin wird der Fall der Familie von Nico Herrmann geschildert, der nach eigener Aussage gelernter Elektroinstallateur und Schweißer ist. Mit diesem Wissen ausgestattet installierte Herrmann im Jahr 2020 ein Balkonkraftwerk mit LKW-Batterien zur Zwischenspeicherung des Stroms. Die Fotos (Quelle) zeigen die etwas eigenwillige Installation der Solarmodule, die nicht am Balkon nach unten angebracht wurden, sondern oberhalb des Balkongeländers.
Es kommt, wie es kommen muss: Seit 12. Januar 2021 läuft der Rechtsstreit zwischen Mieter Herrmann und Vermieter Wohnungsbaugenossenschaft. Zwei Urteile im Jahr 2021 besagen: die Anlage ist unrechtmäßig und muss abmontiert werden. Dabei beruft sich die klagende Partei darauf, dass die Anlage nicht den VDE-Vorschriften entsprechen würde und daher „unrechtmäßig“ sei. „Wichtig muss aber dabei sein, dass Anschluss und Betrieb solcher Anlagen in jeder Situation sicher sind“, betont Vorstand Peter Sattler.
Familie Herrmann wiederum beruft sich auf die fachgerechte Installation durch den Mieter als Elektroinstallateur, eine zusätzlich abgeschlossene Versicherung und sogar die teilweise Demontage bei schlechtem Wetter, um niemanden zu gefährden. Daneben habe er Kohlendioxid-Warner aufgestellt und sogar Feuerlöscher bereitgestellt. Dass tatsächlich Gefahr von der Anlage ausgeht, bestreitet der Mieter vehement.
Nachdem sich Herrmann trotz der Gerichtsurteile weigert, das Balkonkraftwerk abzunehmen, folgt eine Räumungsklage – am 20. Januar 2023 schließlich ist nach Berufung klar: Die Räumungsklage im Rechtsstreit um ein Balkonkraftwerk ist erfolgreich. Die Familie mit drei Kindern wird ausziehen müssen.
Die Regeln und der VDE
Dieses Gerichtsurteil Balkonkraftwerk zeigt: Ein Vermieter oder eine Eigentümergemeinschaft beruft sich heute auf Regeln rund um Bakonkraftwerke, die im Prinzip überholt sind.
Einerseits steht die Stärkung der Mieterrechte bei der Montage am Balkon kurz bevor – hier dürfte es eine Regelung geben analog zu der gesetzlichen Verankerung, dass Satellitenschüsseln angebaut werden dürfen.
Andererseits hat der VDE im Januar 2023 ein Positionspapier herausgegeben, in dem fast alle Regeln, auf die sich auch die Wohnungsbaugenossenschaft Ilmenau beim Rechtsstreit um Balkonkraftwerk beruft, kassiert werden:
- Duldung des Schuko-Steckers statt Wieland-Einspeisesteckdose
- Bagatellgrenze von 800 statt 600 Watt pro Balkonkraftwerk
- Kein Zwang mehr zum Wechsel zu einem Zweirichtungszähler – stattdessen wird der rückwärtsdrehende Ferraris-Zähler erlaubt
- Vereinfachte Anmeldung bei Netzbetreiber und im Marktstammdatenregister
Die Aufzählung zeigt: Es deutet alles darauf hin, dass die Regeln, die auch die Ilmenauer nutzen, überholt sind. Aber: Im Rechtsstreit um ein Balkonkraftwerk gilt nicht die zukünftige Rechtslage, sondern die gegenwärtige Rechtslage. Daher gelten die Urteile und müssen akzeptiert werden.
Aber: Vielleicht kann es ja doch noch einen Kompromiss zwischen den Streitparteien geben, der sich auf die Vorschriften und Aussagen im VDE Positionspapier bezieht? Es wäre im Sinne der Familie im Besonderen und der Energiewende im Allgemeinen sehr zu wünschen. Es ist Zeit für Pragmatismus statt Engstirnigkeit!
Martin Ulrich Jendrischik, Jahrgang 1977, beschäftigt sich seit mehr als 15 Jahren als Journalist und Kommunikationsberater mit sauberen Technologien. 2009 gründete er Cleanthinking.de – Sauber in die Zukunft. Im Zentrum steht die Frage, wie Cleantech dazu beitragen kann, das Klimaproblem zu lösen. Die oft als sozial-ökologische Wandelprozesse beschriebenen Veränderungen begleitet der Autor und Diplom-Kaufmann Jendrischik intensiv. Als „Clean Planet Advocat“ bringt sich der gebürtige Heidelberger nicht nur in sozialen Netzwerken wie Twitter / X oder Linkedin und Facebook über die Cleanthinking-Kanäle ein.