Schockwellen: Wie Claudia Kemfert die deutsche Energiepolitik kritisiert
Claudia Kemfert rechnet in ihrem neuen Buch Schockwellen fundiert mit der Energiepolitik der letzten vier Jahrzehnte, Deutschlands Abhängigkeit von Russland und „Klimakanzlerin“ Angela Merkel ab.
In ihrem neuen Buch “Schockwellen – Letzte Chance für sichere Energien und Frieden” rechnet Claudia Kemfert schonungslos mit der deutschen Energiepolitik der letzten Jahrzehnte ab. Sie schont dabei weder Alt-Kanzlerin Angela Merkel, noch den früheren Vize-Kanzler Sigmar Gabriel oder den heutigen Bundeskanzler Olaf Scholz. Wie Kemfert die deutsche Energiepolitik kritisiert – und welche Chancen für sichere Energien und Frieden noch bleiben. Eine Cleanthinking-Rezension.
Claudia Kemfert ist Professorin für Energie an der Leuphana Universität in Lüneburg und Abteilungsleiterin für Energie, Verkehr und Umwelt am DIW in Berlin. Als viel zitierte und häufig in Podcasts oder dem Fernsehen vertretene Expertin vertritt sie seit Jahren eine klare Auffassung zum Umbau des deutschen Energiesystems weg von fossilen Energieträgern hin zu erneuerbaren Energien. Ihren Berechnungen zufolge sind die Systemkosten eines solchen, neuen Systems weit günstiger als die Systemkosten, die ein fossil-atomares Energiesystem verursacht.
In einer viel beachteten Pressekonferenz zeigte sie 2007 auf Basis wissenschaftlicher Arbeiten, dass die Kosten für die Bewältigung der Folgen des Klimawandels weit höher sind als die Kosten für beherzten Klimaschutz und insbesondere den Ausstieg aus den fossilen Energieträgern. Im März 2007 bezifferte sie die Kosten für die Klima-Katastrophe auf 800 Milliarden bis 2050 und auf drei Billionen Euro bis zum Jahr 2100. Die Zahlen verfingen und wurden reichlich medial transportiert.
Was weit weniger Aufmerksamkeit erzeugte? Die errechneten Kosten für die Dekarbonisierung des Energiesystems lagen bei lediglich sechs Milliarden Euro pro Jahr – also 260 Milliarden bis 2050. Doch die Schlagzeile “Klimaschutz erwirtschaftet 540 Milliarden Euro für Schule und Kino” fand sich nirgendwo. Trotz dieser glasklaren wissenschaftlich fundierten Botschaft: Die Dekarbonisierung des Energiesystems ist bis heute Stückwerk geblieben.
Kemfert beschreibt in Schockwellen Letzte Chance für sichere Energien und Frieden auch, welche Gegenwehr sie als damals eine der ersten Junior-Professorinnen erlebte – und wie die PR-Agentur Hill+Knowlton zuerst für die Tabak-Industrie und später übertragen auch auf die Klimaproblematik die “Strategie des Zweifelns” entwickelten.
Für Kemfert ist die “verschleppte Energiewende” der vergangenen Dekade die mit Abstand krasseste Verschwendung der letzten 20 Jahre. Dabei zielt sie besonders auf die Nutzung von Erdgas als Brücke ins Nichts ab – der fossilen Lobby sei es gelungen, Erdgas als etwas Gutes, Günstiges und Sauberes darzustellen. Doch bei genauerem Hinsehen sei Erdgas unter Umständen sogar schädlicher als Kohle.
Allein in den vergangenen zehn Jahren hat Deutschland 100 Milliarden Euro für fossile Energieträger alleine an Russland bezahlt. “Mittlerweile ist der Preis der verschleppten Energiewende in Bereichen angekommen, wo Dagobert Duck von ‘Fantastillionen’ schwärmen würde”, so Kemfert. Damit sind u.a. die Rettungspakete der Bundesregierung gemeint. “Das Geld wird buchstäblich verbrannt”, statt in dringend notwendige Investitionen zu fließen.
Schon im Bundestagswahlkampf stiegen die Energiepreise, weil Gazprom über den Sommer die Gasspeicher nicht auffüllte. Derzeit sinken die Energiepreise zwar wieder, dürften aber nicht mehr das Niveau von vor dem Krieg erreichen, schätzt die Expertin Kemfert. Daher könnten noch mehr Fastilliarden notwendig sein, um die Krise endgültig zu überwinden.
Letztlich ist das Buch “Schockwellen” von Claudia Kemfert ein Verriss der deutschen Energiepolitik der letzten zwei Jahrzehnte – ganz gleich, ob Merkel, Gabriel, Altmaier oder Scholz: Sie alle bekommen detailliert vor Augen geführt, was sie hätten besser machen können.
Claudia Kemfert, Professorin für Energieökonomie und Leiterin der DIW Abteilung Energie, Verkehr, Umwelt ist eine gefragte Energieökonomin, die unter anderem die Bundesregierung und die EU berät. Seit langem erforscht sie die Bedingungen der Energiewende, beklagt jetzt vehement die politischen Verzögerungen, warnt vor dem weiteren Gebrauch fossiler Brennstoffe. Ihr neues Buch ist eine Abrechnung mit der deutschen Energiepolitik der letzten beiden Jahrzehnte.
Letzte Chance für sichere Energien und Frieden
Der Untertitel des Schockwellen-Buches von Claudia Kemfert ist „Letzte Chance für sichere Energien und Frieden“. Im Mittelpunkt dieser Chance steht, die Energiewende endlich zu Ende zu bringen – und zwar ohne Stranded Assets wie etwa den Aufbau zu vieler LNG-Terminals voranzutreiben. Kemfert ist überzeugt: Die Brücke Gas führt in die Irre, wird nicht mehr gebraucht.
Um Energieunabhängigkeit zu gewinnen, ist die Wärmewende konsequent umzusetzen. Hier verweist Kemfert, die ein bedeutender Teil von Scientists for Future ist, ein Papier, das die Organisation bereits kurz nach Beginn des Ukraine-Krieges veröffentlicht hat.
Buch, Kindle, Hörbuch: Schockwellen kaufen
Zu kaufen gibt es das neue Buch von der Energieökonomin Claudia Kemfert in verschiedenen Versionen. Hier gibt es einige Empfehlungen und Links zu passenden Shops. Bei Kauf über diesen Link erhält Cleanthinking eine kleine Provision. Sie unterstützen damit die redaktionelle Arbeit.
- Kindle-Version von Schockwellen bei Amazon
- Hörbuch-Version für 9,95 von Audible
- Kemferts neues Buch als gebundene Ausgabe (Preis: 26 Euro)
- Überblick über alle Bücher der Autorin bei Amazon
Kemferts Buch eignet sich für alle, die an den historischen Zusammenhängen rund um die Energiepolitik der vergangenen vier Jahrzehnte interessiert sind. In kurzen Kapiteln nutzt Kemfert den energiepolitischen Rückblick zur allgemeinverständlichen Erklärung wichtiger Zusammenhänge rund um Erneuerbare Energien, Atomkraft oder Gas als Brückentechnologie.
Wer sehr viele neue Lösungen für die Energiepolitik der Zukunft erwartet, wird nur teilweise fündig und sollte vielleicht zu einem anderen Buch, Hörbuch oder E-Book greifen. Die Botschaft, dass wir nicht mehr viel Zeit haben, um die Energiewende konsequent umzusetzen, ist vielfach verbreitet worden. Jetzt gilt es, den Blick zurück zu beenden, und in der Dekade der Umsetzung von fokussiert zu sein.
Weiterer Beitrag zu Claudia Kemfert bei Cleanthinking:
- Spiegel-Interview mit Kemfert vom Februar 2022
Martin Ulrich Jendrischik, Jahrgang 1977, beschäftigt sich seit mehr als 15 Jahren als Journalist und Kommunikationsberater mit sauberen Technologien. 2009 gründete er Cleanthinking.de – Sauber in die Zukunft. Im Zentrum steht die Frage, wie Cleantech dazu beitragen kann, das Klimaproblem zu lösen. Die oft als sozial-ökologische Wandelprozesse beschriebenen Veränderungen begleitet der Autor und Diplom-Kaufmann Jendrischik intensiv. Als „Clean Planet Advocat“ bringt sich der gebürtige Heidelberger nicht nur in sozialen Netzwerken wie Twitter / X oder Linkedin und Facebook über die Cleanthinking-Kanäle ein.
Wenn die Autorin vor 15 Jahren aus den vielen Fakten eine Serie für die Bild-Zeitung gemacht hätte, hätten es vielleicht viele Menschen mit mehr Interesse gelesen. Übrig bleibt eine Nabelschau mit dem Ergebnis: Hätte, hätte, Fahrradkette. Wer die Zeit für dieses Sachbuch aufbringt, sollte zählen, wie oft die Worte „ich“ und „wir“ verwendet wurden. Oder wie die Autorin auf Seite 59 schreibt: „Die vierte Energie-Expertin bin ich selbst“.
Nichts gegen die tolle Arbeit von Cleanthinking, ganz im Gegenteil, aber die Empfehlung von Amazon gegen Provision geht gar nicht, da Amazon gegen alle vorstellbaren SRI- und ESG-Standards verstößt.
Hallo Franz,
ich verstehe die Kritik. Allerdings macht Amazon auch viele Dinge richtig (EE, eMobility). Daher, und aus Mangel an Alternativen, die eine kleine Provision zahlen würden, wird hier gelegentlich auf Amazon verlinkt. Es steht jedem frei, darauf zu klicken oder einen anderen Buchhändler zu suchen bei Interesse.
Übrigens: Mir wäre es lieber, die nötigen Einnahmen zur Gegenfinanzierung der laufenden Kosten durch Spenden zu erwirtschaften. Funktioniert aber leider bislang nicht.
Viele Abendgrüße, Martin
Die Kritik an Amazon teile ich — entsprechend habe ich mein Konto dort vor Jahren gelöscht — aber nenne doch mal Alternativen zur Finanzierung dieser Site.