Mieterstrom für alle: Ingenieure entwickeln solidarisches Modell

Die ersten 32 Mietparteien profitieren in Hamburg-Ohlsdorf von Dach-Solarstrom und werden ohne Investitionskosten zu Sonnenstrom-Genießern.

Bislang sind Mieterstromprojekte bürokratisch, technisch komplex und administrativ herausfordernd. Deshalb ist die Zahl der umgesetzten Projekte mit 9.000 ziemlich gering. Zwei pfiffige Ingenieure, Christian Warsch und Holger Laudeley, zeigen jetzt in einem Pilotprojekt in Hamburg-Ohlsdorf, dass es dank moderne Technik und örtlicher Begebenheiten auch ganz anders geht: Unbürokratisch, technisch simpel, fast ohne administrativen Aufwand und vor allem solidarisch. Was steckt hinter der Idee „Solidarische Balkonkraftwerke„?

Hamburg-Ohlsdorf ist derzeit ein Hotspot der Energiewende. Denn in ruhiger Nachbarschaft zum größten Parkfriedhof der Welt ist ein Mieterstromprojekt der besonderen Art in der Umsetzung. „Unser Ziel ist es, dass wir viele Nachahmer finden, die ihre Mieter auch wirklich an den Vorteilen von Solarstrom teilhaben lassen wollen“, erklärt Dr.-Ing. Christian Warsch (70). Er verwaltet als Miteigentümer sechs Gebäude mit 114 Wohneinheiten in Ohlsdorf – typische norddeutsche Backsteinbauten mit ganz unterschiedlicher Mieter-Klientel: Von der alleinstehenden Rentnerin bis zur fünfköpfigen Familie.

Warsch hat sich vor drei Jahren bei der Deutschen Gesellschaft für Sonnenenergie DGS zum Solarfachberater weiterbilden lassen. Dabei verfestige sich sein Entschluss, seine Mieter mit Solarstrom an der Energiewende teilhaben zu lassen – aber ohne zum Energieversorger werden zu müssen. „Strom an die Mieter zu verkaufen ist nicht mein Business“, sagt er. Stattdessen strebte er eine solidarische Lösung an.

Mieterstrompotenzial wird nicht ansatzweise ausgeschöpft

In klassischen Mieterstromprojekten ist der Nutzen für die Mieter häufig gering. Zehn Prozent niedrigere Stromkosten im Vergleich zu den Preisen des örtlichen Grundversorgers? Kein wirklicher Anreiz. Auch deshalb wird das Potenzial, das eine Analyse des Instituts der deutschen Wirtschaft verdeutlicht, nicht ausgeschöpft: 14,3 Millionen Menschen in Mehrfamilienhäusern könnten der Studie zufolge in gut 1,9 Millionen Gebäuden von Solarstrom vom Dach profitieren. Das Zubaupotenzial liegt demnach bei 43 Terawattstunden – realisiert sind derzeit 0,16 Terawattstunden.

„Bei einem klassischen Mieterstrommodell profitieren die Mieter kaum. Daher, und wegen komplexer Messkonzepte und anderer Hürden haben wir das als Handwerksbetrieb quasi nie umgesetzt“, berichtet Ingenieur und Vordenker Holger Laudeley, dessen Firma Laudeley Betriebstechnik federführend am Ohlsdorfer Projekt beteiligt ist.

Aus der Sicht der Energiewende ist es aber zentral, dass Gebäude, die viele Menschen mit Eigenstrom vom Dach versorgen können, auch entsprechend umgerüstet werden. Denn die nutzbaren Flächen – gerade bei Flachbauten – sind bereits versiegelt und aufgrund ihrer Höhe selten von Verschattung betroffen. Darüber hinaus sind die Transportverluste bei direkter Versorgung vom eigenen Dach viel geringer.

Eigentümer Warsch geht einen anderen Weg, der technisch einfacher, unbürokratischer und letztlich solidarischer ist: Da er sich mit Balkonkraftwerken und der dazugehörigen Technik wie Mikro-Wechselrichter und modulare Stromspeicher beschäftigte, entstand seine Idee, jede Wohnung um eine eigene Mini-Solaranlage mit vier Solarmodulen auf dem Dach zu erweitern. Im Zusammenspiel mit Laudeley wurde die Idee weiterentwickelt: Balkonkraftwerke aufs Dach und Balkonkraftwerks-Speicher zusätzlich in den Keller.

Das Gebäude: Kerbelweg 26-30 und Salbeiweg 46-48:

Das Projekt „Solidarische Balkonkraftwerke“ beginnt mit der Realisierung in einem Gebäude mit 32 Wohnungen, das aus einem vierstöckigen und einem zweistöckigen Gebäudeteil besteht. Die beiden Gebäudeteile sind miteinander verbunden und verfügen über insgesamt fünf Eingänge. Die 32 Wohnungen haben eine Größe zwischen 63 und 94 Quadratmetern und sind jeweils mit einer Terrasse oder einem Balkon ausgestattet.

Die Dächer der Gebäudeteile bieten mit 322 bzw. 550 Quadratmetern ideale Voraussetzungen für die Installation von Photovoltaikanlagen. Die beiden Dächer wurde im Jahr 2023 vollständig erneuert und die Giebelseiten vor einigen Jahren gedämmt. Das Gebäude ist an die Fernwärmeversorgung der Stadt Hamburg angeschlossen. Insgesamt ein typisches, norddeutsches Gebäude, das es nicht nur in Ohlsdorf zigfach gibt. sondern im gesamten Bundesgebiet.

Eine Besonderheit des Gebäudes sind die innenliegenden Notfallschächte, die ursprünglich für den Anschluss von Kaminöfen vorgesehen waren. Diese Schächte werden nun genutzt, um die Kabel der Photovoltaikanlagen vom Dach in den Keller zu führen. Im Keller befinden sich die 32 digitalen Wohnungszähler der Energienetze Hamburg, jeweils in einem kleinen Raum unterhalb der Kellertreppe.

Das technische Konzept: Drei Anlagentypen für maximale Effizienz

„Da ich als wirtschaftlich stärkste Partei die Investitionskosten übernehme, profitieren die Mieter ohne eigene Investition von Einsparungen durch den Solarstrom“, erklärt Warsch. Hierzu werden die Mieter jeweils als Anlagenbetreiber ins Marktstammdatenregister eingetragen. Um von EEG-Einspeisevergütung zu profitieren, folgt die Anmeldung beim Netzbetreiber Hamburger Energienetze.

Das Herzstück des Projekts bilden also die 32 Mini-Solaranlagen, die auf den Dächern der Gebäudeteile installiert werden. Jede dieser Anlagen besteht aus vier Solarmodulen mit je 440 Wattpeak und versorgt jeweils eine Wohnung mit sauberem Solarstrom. Solarmodule auf dem Dach statt am Balkon? „Das bringt deutlich mehr Ertrag“, versichert Laudeley, der selbst als Namensgeber der sogenannten Balkonkraftwerke gilt.


Komponenten der Dachkraftwerke:

Der erzeugte Strom wird zunächst in einer Speicherbatterie mit 4,3 kWh Kapazität im Keller zwischengespeichert. Diese Speicherbatterie besteht aus einem Kopfspeicher und einem Erweiterungsspeicher. Von dort wird der Strom über zwei Mikrowechselrichter mit 2 x 800 Watt Leistung in die Wohnung geleitet. Überschüsse bei vollem Speicher werden ins öffentliche Netz eingespeist.

Ergänzt werden diese Anlagen durch zwei weitere Photovoltaikanlagen:

  • Volleinspeiseanlage: Diese Anlage mit ebenfalls 54 Solarmodulen ist als Volleinspeiseanlage konzipiert. Die Einspeisevergütung dieser Anlage trägt zur Refinanzierung der Investitionskosten des Projekts bei.
  • Allgemeinstromanlage: Diese Anlage mit 54 Solarmodulen deckt den Strombedarf des Allgemeinstroms (z.B. Beleuchtung, zentrale Waschmaschinen) und des Wärmestroms (z.B. für Umwälzpumpen). Sie ist mit einem Batteriespeicher im Keller (15 kW Wechselrichter, 16 kWh Speicherung) und einem zusätzlichen Wechselrichter (10 kW) ausgestattet.


Komponenten Allgemeinstromanlage:

  • 54 Solarmodule von SunLit mit jeweils 440 Wattpeak inkl. Montagegestell
  • Stromspeicher als All-In-One-Gerät Deye – powered by SunLit (15 kW Wechselrichter, 16 kWh Speicherung)
  • Zusätzlicher Wechselrichter (Deye – powered by SunLit, 10 kW)

  Komponenten Volleinspeiseanlage:

  • 54 Solarmodule von SunLit mit jeweils 440 Wattpeak inkl. Montagegestell
  • Zwei Wechselrichter Deye – powered by SunLit (10 kW)

„Wir kombinieren also die Vorteile der Balkonkraftwerke mit denen klassischer PV-Anlagen“, sagen Laudeley und Warsch. Gleichzeitig werde die große Dachfläche durch das Konzept der drei unterschiedlichen PV-Anlagen maximal ausgenutzt. Die Mieter werden zu Sonnenstrom-Genießern.

Finanzierungskonzept: Solidarität als Schlüssel zum Erfolg:

Ein zentraler Aspekt des Projekts ist das solidarische Finanzierungskonzept. Vermieter Warsch übernimmt die gesamten Investitionskosten in Höhe von zirka 280.000 Euro. „Hier in Vorleistung zu gehen, verstehe ich unter Vermieter-Mieter-Solidarität.“ Die Mieter zahlen aus ihren Einsparungen eine Dach-Pacht für ihre Anlage, die sich an den real erzielten Einsparungen im Vergleich zu den Vorjahren ohne Photovoltaikanlage orientiert. Die Pacht entspricht 50 Prozent der erzielten Einsparungen. Dazu erhalten sie die Einspeisevergütung für ihre Mini-Solaranlage.

Dazu profitieren sie davon, dass für den Allgemeinstrom, der etwa die Beleuchtung in den Treppenhäusern sicherstellt, nicht mehr abgerechnet wird. „In einer 69-Quadratmeter-Wohnung sparen die Mieter pro Jahr etwa 280 Euro – ganz genau wissen wir das aber erst in einigen Monaten“, berichtet der promovierte Schiffs- und Maschinenbau-Ingenieur.

Das Konzept „Solidarische Balkonkraftwerke“ bietet sowohl für die Mieter als auch für den Vermieter zahlreiche Vorteile.

Mieter:

  • Reduzierung der Stromkosten um geschätzt 40 bis 55 Prozent
  • Wegfall der Kosten für den Allgemeinstrom
  • Erhalt der Einspeisevergütung
  • Nutzung von zwei Wallboxen mit niedrigen Kosten von 20 Cent pro kWh
  • Beteiligung an der Energiewende

Vermieter:

  • Refinanzierung der Investitionskosten durch die Einspeisevergütung und die Dach-Pacht
  • Steuerliche Abschreibungsmöglichkeiten
  • Vermeidung bürokratischer Hürden
  • Einfache Abrechnung
  • Steigerung der Attraktivität der Wohnungen
  • Stärkung des Gemeinschaftsgefühls

Solidarische Balkonkraftwerke: Alle Mieter machen mit

Holger Laudeley hat mit dem Konzept „Solidarische Balkonkraftwerke“ ein weiteres Problem klassischer Mieterstromprojekte gelöst. Die Mieter behalten ihren bisherigen Stromvertrag für die Reststromlieferung. Gleichzeitig profitieren sie ohne Investitionskosten von Solarstrom vom eigenen Dach. Bei mehreren Gelegenheiten hat der Eigentümer mit den Mietern genau diese Vorteile besprochen.

Vermieter Warsch mit Mieterin: So funktioniert Balkonkraftwerkstechnik.

Das Ergebnis: Alle Mietparteien machen mit und freuen sich über die Möglichkeit, als Mieter Anlagenbetreiber und Teilhaber an der Energiewende zu werden. „Sie spielen mir zurück, dass sie froh sind, für ihre Kinder oder Enkel etwas Gutes zu tun – und dabei selbst keinerlei Nachteile zu haben“, so Warsch. Dank der modernen Technik erhalten sie Zugriff auf die App von SunLit Solar, wo sie genau verfolgen können, was von ihrer Solaranlage gerade produziert wird.

Mieterstrom in Hamburg-Ohlsdorf: Ein Vorbild für die Zukunft?

Das Projekt „Solidarische Balkonkraftwerke“ in Hamburg-Ohlsdorf ist ein Leuchtturmprojekt, das zeigt, wie die solare Energieversorgung in Mehrfamilienhäusern erfolgreicher und effizienter gestaltet werden kann. Es ist ein Vorbild für die Zukunft und hat das Potenzial, die Energiewende in Deutschland zu beschleunigen. Warsch und Laudeley jedenfalls erhalten positive Rückmeldungen: Vom Hamburger Mieterverein, vom Netzbetreiber, von Solarverbänden, von Immobilien-Investoren und aus dem politischen Umfeld.

Die Stadt Hamburg hat gerade beschlossen, alle 420 Schuldächer im Stadtgebiet mit Solarstrom auszurüsten. Im Stadtteil Ohlsdorf dagegen gibt es bislang kaum Photovoltaikanlagen. Grund genug für den Mit-Eigentümer, rasch die nächsten Gebäude in seinem ruhigen Quartier anzugehen. „2025 werden weitere Gebäude in Angriff genommen“, ist sich Warsch sicher. Damit können die beiden Ingenieure weitere Vorbilder für die Zukunft schaffen – und dafür sorgen, dass das Konzept „Solidarische Balkonkraftwerke“ auch außerhalb der Stadtgrenzen Hamburgs Schule macht.

Martin Ulrich Jendrischik, Jahrgang 1977, beschäftigt sich seit mehr als 15 Jahren als Journalist und Kommunikationsberater mit sauberen Technologien. 2009 gründete er Cleanthinking.de – Sauber in die Zukunft. Im Zentrum steht die Frage, wie Cleantech dazu beitragen kann, das Klimaproblem zu lösen. Die oft als sozial-ökologische Wandelprozesse beschriebenen Veränderungen begleitet der Autor und Diplom-Kaufmann Jendrischik intensiv. Als „Clean Planet Advocat“ bringt sich der gebürtige Heidelberger nicht nur in sozialen Netzwerken wie Twitter / X oder Linkedin und Facebook über die Cleanthinking-Kanäle ein.

Energiewende News - Die JahrhundertaufgabeSolar