Was folgt aus den Stunden mit Börsenstrompreisen von 800 Euro?
Der 6. November 2024, ein Mittwoch, war ein bedeutsamer Stresstest-Tag für die deutsche Energiewende. An diesem Tag kam es zu einer außergewöhnlichen Situation an der Leipziger Strombörse EEX: Die Strompreise stiegen auf über 800 Euro pro Megawattstunde (MWh) – ein Niveau, das selbst während der Energiekrise 2022 nicht erreicht wurde. Auslöser war eine sogenannte europaweite Dunkelflaute, eine Wetterlage mit hoher Stromnachfrage bei gleichzeitig geringer Einspeisung aus erneuerbaren Energien. Doch was genau spielte sich an diesem Tag ab?
Analyse des 6. November:
Trübes Wetter und schwacher Wind führten dazu, dass Solar- und Windkraftanlagen an diesem Tag nur einen Bruchteil ihrer möglichen Leistung ins Netz einspeisen konnten. Wie die Wirtschaftswoche berichtete, lieferte die Windkraft beispielsweise am Mittag lediglich 58 Megawatt Leistung, während Braunkohle- und Gaskraftwerke 11.700 bzw. 13.464 Megawatt beisteuerten.
Diese geringe Einspeisung aus erneuerbaren Energien, in Kombination mit einer in ganz Zentraleuropa erhöhten Residuallast (also der Nachfrage abzüglich der Erzeugung aus Wind- und PV), führte zu einer drastischen Verknappung des Stromangebots und trieb die Preise kurzfristig in die Höhe.
Erschwerend kam hinzu, dass viele konventionelle Kraftwerke, insbesondere Kohle- und Gaskraftwerke, nicht flexibel genug sind, um schnell auf die schwankende Nachfrage zu reagieren. Leonhard Probst (Linkedin) vom Fraunhofer ISE bestätigt gegenüber Cleanthinking.de, dass viele dieser Kraftwerke mehr als 24 Stunden Vorlaufzeit benötigen, um hochzufahren.
Möglicherweise haben auch fehlerhafte Prognosemodelle, die die Lastspitzen unterschätzt haben, dazu beigetragen, dass einige Kraftwerke nicht rechtzeitig hochgefahren werden konnten. Probst verweist auf die ungewöhnliche hohe Diskrepanz zwischen den prognostizierten und den tatsächlichen Strompreisen.
Die genauen Ursachen für die extremen Preisspitzen sind weiterhin Gegenstand von Diskussionen. Während die WiWo von möglichen „Zocker-Bewegungen“ spricht, halten die Energiemarktexperten von Octopus Energy Spekulationen für unwahrscheinlich.
Viele Grafiken zum 6. November gibt es auch hier beim MDR.
Kurzfristige Entwarnung, mittelfristige Herausforderungen
Entgegen der von manchen Medien und Akteuren geschürten Panikmache bestand und besteht kurzfristig keine Gefahr für die Versorgungssicherheit. Deutschland verfügt über genügend Kraftwerkskapazitäten, um die Stromversorgung auch in Zeiten hoher Nachfrage sicherzustellen.
Mittelfristig jedoch drohen ernsthafte Probleme, wenn nicht schnell die richtigen Weichen gestellt werden. Ohne den Bau neuer, flexibler Kraftwerke und den Ausbau von Stromspeichern könnte es in Zukunft zu weiteren Preisspitzen und im schlimmsten Fall sogar zu Versorgungsengpässen kommen. Dies würde nicht nur die Verbraucher belasten, sondern auch die Wirtschaft und den Industriestandort Deutschland gefährden.
Kraftwerkssicherheitsgesetz: Garant für Versorgungssicherheit und Kosteneffizienz
Ein zentrales Element der deutschen Energiepolitik ist das Kraftwerkssicherheitsgesetz. Es soll den Bau neuer Gaskraftwerke ermöglichen, die später auf Wasserstoff umgestellt werden können. Diese Kraftwerke sollen als Reservekraftwerke dienen und die schwankende Erzeugung von Wind- und Solarstrom ausgleichen.
Doch das Gesetzgebungsverfahren zieht sich in die Länge. Klaus Müller, Präsident der Bundesnetzagentur, warnt im Interview mit der FAS: „Wenn wir an diesem Punkt wegen der Wahl ein halbes oder ein Dreivierteljahr verlieren, dann wird uns diese wertvolle Zeit später fehlen.“
Sollte das Gesetz erst von der neuen Regierung im Sommer verabschiedet werden, beginnen die Baumaßnahmen für die neuen Kraftwerke frühestens im Jahr 2026. „Dann kommt die Ausschreibung für den Kraftwerksneubau erst 2026“, so Müller. „Wir würden uns mit einer solchen Entwicklung sehr unwohl fühlen. Denn wir brauchen neue Erzeugungsanlagen ab 2030.“ Bis 2030 sollen weitere Kohlekraftwerke vom Netz gehen. Ohne die neuen Gaskraftwerke droht dann eine gefährliche Versorgungslücke.
Das Kraftwerkssicherheitsgesetz, das Robert Habeck noch vor der Wahl verabschieden will, ist aber nicht nur wichtig für die Versorgungssicherheit, sondern auch für die Kosteneffizienz. Durch den Bau neuer, flexibler Kraftwerke können Preisspitzen vermieden und die Kosten für die Stromerzeugung gesenkt werden. Dies kommt letztendlich den Verbrauchern zugute, die in den kommenden Jahren investieren sollen in Wärmepumpen, Elektroautos, Smart Meter und auf dynamische Tarife umstellen sollen.
Einsparkraftwerke: Die unterschätzte Ressource
Neben dem Bau neuer Kraftwerke und dem Ausbau von Stromspeichern bietet die Flexibilisierung des Verbrauchs ein enormes Potenzial, um die Versorgungssicherheit zu erhöhen, die Energiewende zu beschleunigen und die Kosten für die Verbraucher zu senken.
Christian Noll, Geschäftsführer der Deutschen Unternehmensinitiative Energieeffizienz (DENEFF), fordert daher, Energieeffizienz als gleichberechtigte Option neben dem Bau neuer Kraftwerke zu betrachten. „Tatsächlich ist Effizienz unsere wichtigste heimische Energieressource“, so Noll.
Durch klassische Stromeffizienzmaßnahmen könnten 50 Terawattstunden (TWh) eingespart werden, was der Leistung von drei 2,5-Gigawatt-Kraftwerken entspricht. Insgesamt belaufen sich die möglichen Einsparungen im Stromsystem auf über 100 TWh pro Jahr – das entspricht der Leistung mehrerer neuer Großkraftwerke. Noll kritisiert die Bundesregierung dafür, dass sie die Möglichkeiten zur Reduktion des Stromverbrauchs durch Effizienz oder Nachfragesteuerung nicht ernsthaft prüft.
Die DENEFF fordert die Bundesregierung auf, parallel zur Kapazitätsausschreibung für neue Kraftwerke auch eine Effizienzausschreibung zu starten. Energieeffizienz muss als gleichberechtigte Option in die Kraftwerksstrategie integriert werden. Auch dezentrale Systeme, wie die Kombination von Wärmepumpen, Kraft-Wärme-Kopplung und Speichern, müssen stärker berücksichtigt werden.
Dynamische Stromtarife: Chance und Risiko zugleich
Dynamische Stromtarife können dazu beitragen, den Verbrauch flexibler zu gestalten und Lastspitzen zu vermeiden. Doch die Ereignisse vom 6. November haben auch gezeigt, dass dynamische Tarife für die Verbraucher mit Risiken verbunden sind.
Leonhard Probst von Fraunhofer ISE plädiert daher für Tarife mit Risikoabsicherung, um die Kunden vor extremen Preisschwankungen zu schützen. „Ich persönlich sehe es als äußerst kritisch an, das komplette Preisrisiko auf den Marktteilnehmer mit den geringsten Marktkenntnissen (Haushaltsendkunde) zu verlagern!“, schreibt Probst auf Nachfrage von Cleanthinking. „Das soll kein Plädoyer gegen dynamische Strompreise, aber für bessere Tarife mit Risikoabsicherung sein.“
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Auch die Energiemarktexperten von Octopus Energy betonen die Bedeutung der Flexibilität und setzen auf intelligente Angebote mit Preisgarantien. Sie verweisen auf das Beispiel Großbritannien, wo durch die flexible Steuerung des Verbrauchs („Savings Sessions„) Lastspitzen im Umfang mehrerer Kraftwerke verschoben werden können.
„Am 6. November um 18 Uhr hätten zum Beispiel schon +/- 1000 MW verschobene Last einen Preisunterschied von +/- 250 Euro ausgemacht“, so die Experten. „Das zeigt, wie sensitiv die Preise auf kleine Nachfrageänderungen sind.“
Fazit: Flexibilität als Schlüssel zur erfolgreichen und kosteneffizienten Energiewende
Der 6. November war ein wichtiger Stresstest-Tag für die deutsche Energiewende. Er hat nicht nur die Anfälligkeit des Stromsystems für Schwankungen bei der Erzeugung aus erneuerbaren Energien aufgezeigt, sondern auch die Bedeutung der Flexibilität hervorgehoben. Die Politik ist gefordert, schnell zu handeln und die richtigen Weichen zu stellen.
Denn auch RWE-Chef Krebber mahnte zuletzt die weiterführende Gesetzgebung sowie den Bau von Großspeichern an, damit es bei höherer Last nicht zu Problemen im Stromnetz kommen könne (vgl. Post bei Linkedin).
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Der Ausbau von flexiblen Kraftwerken und Stromspeichern ist wichtig, aber genauso wichtig ist die Flexibilisierung des Verbrauchs durch Energieeffizienzmaßnahmen und die Einbindung der Verbraucher in das Stromsystem. Dynamische Stromtarife können dazu beitragen, aber sie müssen so gestaltet sein, dass sie für die Verbraucher attraktiv und sicher sind.
Die Energiewende ist eine komplexe Herausforderung, die innovative Lösungen erfordert. Der 6. November hat gezeigt, dass Deutschland auf dem Weg zu einem nachhaltigen und bezahlbaren Energiesystem die richtigen Weichen stellen muss.
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Martin Ulrich Jendrischik, Jahrgang 1977, beschäftigt sich seit mehr als 15 Jahren als Journalist und Kommunikationsberater mit sauberen Technologien. 2009 gründete er Cleanthinking.de – Sauber in die Zukunft. Im Zentrum steht die Frage, wie Cleantech dazu beitragen kann, das Klimaproblem zu lösen. Die oft als sozial-ökologische Wandelprozesse beschriebenen Veränderungen begleitet der Autor und Diplom-Kaufmann Jendrischik intensiv. Als „Clean Planet Advocat“ bringt sich der gebürtige Heidelberger nicht nur in sozialen Netzwerken wie Twitter / X oder Linkedin und Facebook über die Cleanthinking-Kanäle ein.