Ausgerechnet in der Zeit des Krieges in der Ukraine und in Tschernobyl bricht eine Debatte um Laufzeitverlängerungen deutscher Atomkraftwerke los.
Heute ist der 26. April 2022: Es ist nicht nur der Tag, an dem Elon Musk Twitter kaufte, sondern vor allem der mittlerweile 36. Jahrestag der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl. Doch trotz des Super-GAUs in der Ukraine im Jahr 1986 und des Reaktorunglücks in Fukushima vor elf Jahren, gibt es in Europa wieder Debatten über neue Atomkraftwerke und die Verlängerung von AKW-Laufzeiten. Neben unrealistischen, teuren und gefährlichen Szenarien werden Mythen über neue Formen der Kernenergie verbreitet. Dabei müsste der Zustand des ehemaligen Kraftwerks Tschernobyl Mahnung und Warnung genug sein.
Der katastrophale Unfall, INES 7, ereignete sich in Tschernobyl am 26. April 1986 mitten in der Nacht: Block 4 des Kernkraftwerks Tschernobyl, gelegen in der Nähe der ukranischen Stadt Prypjat, explodierte, radioaktive Wolken wurden freigesetzt. Dabei hätte die Katastrophe verhindert werden können: Schon vier Jahre zuvor ereignete sich ein Unfall der Kategorie INES 5 – mit identischer Ursache.
Am 25. April 1986 hatten Simulationen eines vollständigen Stromausfalls begonnen – dabei wurden Sicherheitsvorschriften schwerwiegend verletzt. Bauartbedingte Eigenschaften des graphitmoderierten Kernreaktors vom Typ RBMK-1000 führten zu einem unkontrollierten Leistungsanstieg, der mit der Explosion des Kernreaktors in der Nacht endete. Das als Moderator eingesetzt Graphit geriet in Brand.
In den Tagen nach der Explosion wurde eine Radioaktivität von mehreren Trillionen Becquerel in die Erdatmosphäre freigesetzt. Insbesondere zählen hierzu die Isotope Caesiumm-137 und Iod-131. Viele Länder Europas wurden kontaminiert. Bis heute gibt es eine weitläufige Sperrzone rund um den Reaktor in Tschernobyl, um den herum viele Jahre lang ein Gebäudehülle gebaut wurde.
Wie viele Opfer die Katastrophe forderte, ist umstritten: Die Spanne reicht von 4.000 Toten durch Krebserkrankungen (UN, WHO, IAO) bis zu mehreren Hunderttausend Opfern (IPPNW). Millionen Menschen, das gilt als weitgehend gesichert, leiden unter den Spätfolgen, u.a. Schilddrüsenkrebs.
Fukushima und der Atomausstieg
Nach dem Reaktorunglück von Fukushima im Jahr 2011 beschloss die damalige schwarz-gelbe Bundesregierung unter Führung von Bundeskanzlerin Angela Merkel den Ausstieg aus der Atomenergie. Bis heute ist dieser weit fortgeschritten: derzeit laufen gerade noch drei deutsche Atommeiler (Isar 2, Emsland und Neckarwestheim 2), während zum Ende 2021 drei weitere Anlagen abgeschaltet wurden. Doch die Bundesregierung hat damals, kurz nach der Entscheidung für den neuerlichen Atomausstieg, begonnen, den Ausbau der Erneuerbaren Energien zu verschleppen.
In der heutigen Gemengelage – zu wenig Zubau insbesondere der Windkraft – gepaart mit dem Ziel, unabhängiger von russischen Energieträgern zu werden, werden die Rufe zumindest nach Laufzeitverlängerungen wieder lauter. Doch das Bundeswirtschafts- und das Bundesumweltministerium unter Federführung von Robert Habeck und Steffi Lemke kamen zu dem nachvollziehbaren Schluss, dass eine Laufzeitverlängerung keinen entscheidenden Nutzen bringen würde.
Die Gründe, die gegen eine Laufzeitverlängerung der noch bestehenden Kernkraftwerke sprechen, sind so vielschichtig, dass es Sinn macht, hierzu auf einen sehr guten Blogbeitrag des Öko-Instituts zu verweisen. Besonders relevant ist, dass es in Europa keine Unabhängigkeitsdebatte im Hinblick auf die Atomenergie gibt. Denn die Abhängigkeit Europas von russischen Brennstäben sowie den Wiederaufbereitungsanlagen und vielen anderen Leistungen, ist frappierend, wie auch dieser tagesschau-Beitrag zeigt.
Einblicke in die Sperrzone rund um Tschernobyl
„Ice of Chernobyl“ gibt 33 Jahre nach der Reaktorkatastrophe beeindruckende und bedrückende Einlicke in die Sperrzone des havarierten Kernkraftwerks. Die Filmemacher, die bei den Aufnahmen viel riskierten, sind Ukrainer, die durch Pandemie und Krieg viel verloren haben. Hier bei Patreon kann man sie unterstützen.
Stimmungen und Stimmen zu 36 Jahre Tschernobyl
Neue Mythen zu neuen Atomkraftwerken
Immer wieder bringen insbesondere konservative Politiker oder Unternehmer wie Bill Gates neue Generationen von Atomkraftwerken ins Gespräch – und behaupten, diese seien frei von Risiken und Problemen bisheriger Anlagen. Doch zumeist sind die dahinterstehenden Konzepte solcher, als „neuartig“ verkaufter Kraftwerkstypen Jahrzehnte alt und werfen Fragen nach Sicherheit und Wirtschaftlichkeit auf. Selbst das Problem des Atommülls wird nur vordergründig gelöst. Bis heute gibt es in Deutschland kein Endlager für hochgradig umweltschädliche Überreste der deutschen Atomenergie.
Im Rahmen der Kampagnen der Atombefürworter werden neue Mythen gebildet, wie etwa die Behauptung „Small Nuclear Reactors“ seien viel wirtschaftlicher und sicherer. Was von diesen und vielen weiteren Mythen zu halten ist, hat die Deutsche Umwelthilfe zusammengetragen.
Frankreich als abschreckendes Beispiel
Neben den großen Katastrophen, die die Sicherheit der Atomenergie mehr als fragwürdig erscheinen lassen, dient auch Frankreich als abschreckendes Beispiel. In diesem Artikel haben wir die Situation im Januar 2020 beschrieben – seither hat sich die Lage weiter verschärft: EDF hat Milliarden Schulden, sehr viele aktuelle Kernreaktoren müssen monatelang gewartet werden, die erwartete jährliche Atomstrom-Erzeugung wurde drastisch nach unten korrigiert. Trotzdem will der gerade wiedergewählte französische Präsident am Bau von neuen Kernreaktoren festhalten – und subventioniert EDF weiterhin mit Milliarden.
All diese Gründe rund um Tschernobyl, Fukushima und die aktuell brisante Lage der Atomkraft in Frankreich lassen die Idee konservativer Politiker, deutsche AKW länger laufen zu lassen, vollkommen absurd erscheinen. Gut, dass neben der Bundesregierung auch die Betreiber, u.a. RWE und EnBW, kein Interesse an einem Weiterbetrieb ihrer Kraftwerke haben. Es gilt, die disruptive Umwälzung durch die erneuerbaren Energien konsequent fortzusetzen – das schafft echte Unabhängigkeit.
Martin Ulrich Jendrischik, Jahrgang 1977, beschäftigt sich seit mehr als 15 Jahren als Journalist und Kommunikationsberater mit sauberen Technologien. 2009 gründete er Cleanthinking.de – Sauber in die Zukunft. Im Zentrum steht die Frage, wie Cleantech dazu beitragen kann, das Klimaproblem zu lösen. Die oft als sozial-ökologische Wandelprozesse beschriebenen Veränderungen begleitet der Autor und Diplom-Kaufmann Jendrischik intensiv. Als „Clean Planet Advocat“ bringt sich der gebürtige Heidelberger nicht nur in sozialen Netzwerken wie Twitter / X oder Linkedin und Facebook über die Cleanthinking-Kanäle ein.