Berliner Cleantech-Startup Vay schließt große Finanzierungsrunde ab, fährt seit Februar 2023 ohne Fahrer im Auto durch Hamburg.
Es ist eine neue Idee, den Übergang zu autonomem Fahren zu ermöglichen: Das Berliner Cleantech-Startup Vay will einen Tür-zu-Tür-Service mit ferngesteuerten, vollelektrischen Autos etablieren und schrittweise zum vollständig autonomen Fahrdienst werden. Nach mehr als drei Jahren erfolgreichen Testens haben die Berliner einen historischen Meilenstein erreicht: Seit Februar fährt das erste Elektroauto fahrerlos durch einen Hamburger Stadtteil. Das ist weltweit einmalig, aber nur ein kleiner Schritt zur nachhaltigen Verkehrswende.
Im Dezember 2021 hat das Cleantech-Unternehmen 95 Millionen US-Dollar in einer Finanzierungsrunde eingesammelt. Es will Carsharing über den Telefahr-Service auf ein neues Level heben, das den Vorteilen des autonomen Fahrens durchaus nahe kommt. In der ersten Phase, die 2023 in Hamburg offiziell begonnen hat, ist Vay auf menschliche Fahrer angewiesen. Diese sitzen allerdings aber nicht mehr im Auto, sondern vor Bildschirmen, und steuern das Fahrzeug von dort sicher durch den Großstadtverkehr.
Die sogenannten Teledriver haben eine 360-Grad-Kamerasicht, die das Nachrüsten der eingesetzten Fahrzeuge notwendig macht. Vay-CEO Thomas von der Ohe sieht den Teledriver-Service als wesentliche Möglichkeite, um Einnahmen und Daten zu erhalten, die die schrittweise Einführung der vollständig autonomen Technologie in den Service ermöglichen werden.
Die Behörde für Verkehr und Mobilitätswende der Stadt Hamburg hat für Vay eine Ausnahmegenehmigung ausgestellt, damit das Unternehmen seine Dienstleistung ohne Sicherheitsfahrer an Bord testen kann.
Hamburg ist Vorreiter im Bereich digitaler und innovativer Mobilitätsangebote. Wir wollen sie bedarfsgerecht genau dort einsetzen, wo sie einen echten Mehrwert für die Menschen in ihrer täglichen Mobilität bringen. Vay schafft mit seinem Telefahrservice einen solchen Mehrwert: Keine Parkplatzsuche, emissionsfrei, digital buchbar und als bequemer Service, etwa für die ‚letzte Meile‘ von der Bus- oder Bahnstation bis vor die eigene Haustür.
Anjes Tjarks, Senator für Verkehr und Mobilitätswende
Ein positives Gutachten von TÜV SÜD war die Voraussetzung für die Ausnahmegenehmigung. Der TÜV SÜD betrachtete insbesondere die “Funktionale Sicherheit” und “Cybersicherheit” des Vay Telefahr-Systems im Kontext der Normen ISO 26262 und ISO/SAE 21434.
Für von der Ohe ist die Gedankenwelt des autonomen Fahrens nicht neu: Er arbeitete zuvor beim Amazon-eigenen Robotaxi-Startup Zoox. „Wir verfolgen einen anderen Ansatz für das autonome Fahren, den wir Teledrive First nennen, und das ermöglicht uns einen viel, viel früheren Start“, sagt von der Ohe. „Es ist viel billiger als Ride-Hailing, vor allem weil man in der Mitte fährt und wir niemanden für die gesamte Fahrt bezahlen müssen, so dass wir die Kosten wirklich in die Nähe des städtischen Autobesitzes bringen können.“
Ohne Laser- oder Lidar-Sensoren bietet Vay ein kostengünstiges Basissystem, um den Service in Hamburg, aber auch in anderen europäischen Metropolen und den USA an den Start bringen zu können. Letztlich unterscheidet sich Vay kaum von dem Ansatz, den auch Tesla fährt, und dabei auf Lidar-Sensorik verzichtet: Tesla nutzt die Kundenflotte, um Daten zu sammeln, um eines Tages vollständig autonomes Fahren ermöglichen zu können.
Während bei Tesla der Fahrzeugbesitzer die Fahrt überwacht, übernimmt diese Rolle bei Vay ein Teledriver. Knackpunkt könnte sein, dass die Verbindung zum Kontrollzentrum, in dem der Teledriver sitzt, immer gewährleistet sein muss. Zwar bleibt das Fahrzeug, das den Kontakt verliert, automatisch stehen. Die Reaktionszeiten müssen im dichten, städtischen Verkehr aber kurz sein.
Start seit 2023 in Hamburg Bergedorf
Zum Start mehr Uber als Robotaxi, aber mit gewaltigem Potenzial, fährt Vay mittlerweile durch Hamburgs Stadtteil Bergedorf. Investoren schätzen, dass das Teledriver-Modell 60 Prozent günstiger sein könnte als eine Fahrt mit Uber. Und Uber hat den Taximarkt in den USA revolutioniert, heute einen Marktwert von 64 Milliarden Euro.
Gelingt Vay der Durchbruch mit seiner Technologie im Alltag, könnte Uber nachziehen oder sogar mit den Berlinern kooperieren. Deutschland ist bislang ein schwieriges Pflaster für alternative Fahrdienste wie etwa Clevershuttle. Lizenzen werden aus Rücksicht vor dem Taxigewerbe oft nicht erteilt – Clevershuttle etwa hat sich aus mehreren Städten des Landes zurückgezogen.
An den Start geht Vay mit einer Mischung aus Taxiservice und Leihwagenmodell: Kunden können sich per App ein Fahrzeug bestellen, das ferngesteuert bei ihnen vorfährt. Dann übernimmt der Kunde selbst das Steuer und fährt an sein Ziel. Vor der Tür kann er wieder an einen Telefahrer abgeben, ganz ohne Parkplatzsuche. Ein Tür-zu-Tür-Mobilitätsservice also, der insbesondere teuren Parkraum überflüssig macht – und erleichtern dürfte, auf ein eigenes Auto zu verzichten.
Unterdessen betreibt Waymo bereits einen fahrerlosen Taxidienst in den Vororten von Phoenix, während Cruise, Zoox und Argo AI von General Motors planen, in naher Zukunft autonome Taxis auf die Straßen amerikanischer Städte zu bringen. Aber klar ist auch: Diese Unternehmen mussten ihre Zeitpläne immer wieder verschieben, Ambitionen und Erwartungen reduzieren. Trotzdem flossen bislang 16 Milliarden Dollar von Investoren an Cleantech-Startups aus dem Bereich des autonomen Fahrens.
Vay startet in Las Vegas
Vay fährt seit Mitte November 2023 als erstes Cleantech-Unternehmen in Europa und den USA ohne Sicherheitsfahrer*in auf öffentlichen Straßen. Die erste Fahrt in Las Vegas hat bereits stattgefunden. Damit entsteht ein Wettlauf, welche Technologie sich durchsetzen wird: Waymo und Cruise sind in San Francisco unterwegs, setzen aber auf Geofencing und nur dann Eingriffe eines Fahrers, wenn sich das Auto festfährt. Das hat bereits zu erheblichen Problemen in der Großstadt geführt.
Thomas von der Ohe, Mitgründer und CEO von Vay, sieht den Meilenstein in Europa und den USA als bedeutenden Erfolg. Er betont: „Dies unterstreicht nicht nur die herausragende Expertise unseres Teams, sondern setzt auch Europa und die USA an die Spitze der Telefahrtechnologie.“
Teledriving kann Lücke schließen
Teledriving, wie der Service von Vay auch genannt wird, könnte die Lücke schließen. „Wir können autonome Funktionen schrittweise hinzufügen, wenn wir herausfinden, dass wir 30 Kilometer auf der Autobahn geradeaus fahren, können wir das autonom tun, und für die Kreuzungen und die anderen Abschnitte kommt der Teledriver zurück“, so von der Ohe. Zu diesem Teledriver können die Fahrgäste Kontakt aufnehmen – via App sehen, welche Sicherheitstrainings er absolviert hat. Das schafft Vertrauen.
Der Fahrer sitzt in einem Bürogebäude in Berlin in einer Art Cockpit mit Fahrersitz, Lenkrad, Gaspedal. Vor ihm drei Bildschirme, die das direkte Umfeld visualisieren. Sogar die Geräusche außerhalb des Autos oder die Gespräche im Fahrzeug werden ihm übermittelt. Die Datenübertragung setzt auf dem 4G-Mobilfunknetz auf, Technologie hilft zusätzlich bei der Analyse.
Autonomes Fahren wird noch fünf bis zehn Jahre dauern, sagt auch Niall Wass vom Wagniskapitalgeber Atomico, der mittlerweile in Vay investiert hat. Zuvor, daher seine Expertise, leitete er zeit Jahre nach das Europa- und Asiengeschäft von Uber. Jetzt hat Vay eine Finanzierungsrunde über 84 Millionen Euro abgeschlossen, und so bereits 128 Millionen Euro eingeworben. Kein anderes Startup aus dem Bereich autonomes Fahren hat in Europa mehr Kapital eingeworben.
Der Kreis der Investoren ist ein Illustrer: Mit dabei ist u.a. der Risikapitalfonds Kinnevik, der Hedgefonds Coatue und Eurazeo aus Frankreich. Altinvestoren sind Atomico, Skype-Gründer Niklas Zennström, der Berliner Investor La Famiglia, Creandum, Project A, Visionairies Club und Signals Ventures.
Telefahren für LKW
Noch sinnvoller als Telefahren für PKW erscheint der Ansatz eines anderen Cleantech-Startups: Fernride aus München arbeitet an entsprechendem Service für Lastkraftwagen – angesichts der erwartet zunehmenden Knappheit an LKW-Fahrern ein sinnvolles Unterfangen. Statt einem Fahrer pro LKW, der durchgängig für sein Fahrzeug zuständig ist, kann ein Fernride-Mitarbeiter aus der Ferne 25 Lastwagen betreuen. Während ein Fahrzeug entladen wird, kann er einen anderen LKW von A nach B fahren – zunächst auf Firmengeländen. Das schont Ressourcen, verbessert Effizienz und reduziert Kosten.
Vay und Fernride könnten den Weg für autonomes Fahren frei machen, obwohl sie zunächst einen Schritt zurück machen. Wie der Erfolg sein wird, werden die Kunden entscheiden – ist es attraktiv genug, auf das eigene Fahrzeug zu verzichten, wenn jederzeit ein vorgewärmtes Elektroauto an der richtigen Stelle wartet, den Kunden zur Arbeit fährt, und dann weitere Dienstleistungen erbringt?
Tesla will die Idee etablieren, dass Tesla-Besitzer ihr Auto Freunden oder anderen Interessenten zur Verfügung stellen, wenn sie selbst es nicht brauchen – um damit durchaus auch Geld zu verdienen. Doch die Schwelle, den eigenen Besitz anderen Menschen zu überlassen, ist nach wie vor hoch – obwohl durch Airbnb und andere Dienste sogar bereits mit der eigenen Wohnung erprobt.
Möglicherweise ist es für die junge Generation besonders attraktiv: Die Personen, die ihr Smartphone nutzen, um stets das Verkehrsmittel zu finden, dass im Augenblick gerade perfekt passt. Wenn ab und zu eine Vay-Fahrt dazugehört, kann das Konzept funktionieren und ein Teil der Verkehrswende werden.
Die Verkehrswende Vision des Dienstleisters ist klar: Mit dem Service von Vay sollen weniger elektrische Fahrzeuge mehr Menschen als beim konventionellen Individualverkehr innerstädtisch transportieren. Und: Hohe Kosten für Mobilität sollen gesenkt, die Sicherheit im Straßenverkehr hingegen erhöht werden.
Dieser Artikel erschien ursprünglich am 14. Dezember 2021 – letzte Aktualisierung? November 2023.
Martin Ulrich Jendrischik, Jahrgang 1977, beschäftigt sich seit mehr als 15 Jahren als Journalist und Kommunikationsberater mit sauberen Technologien. 2009 gründete er Cleanthinking.de – Sauber in die Zukunft. Im Zentrum steht die Frage, wie Cleantech dazu beitragen kann, das Klimaproblem zu lösen. Die oft als sozial-ökologische Wandelprozesse beschriebenen Veränderungen begleitet der Autor und Diplom-Kaufmann Jendrischik intensiv. Als „Clean Planet Advocat“ bringt sich der gebürtige Heidelberger nicht nur in sozialen Netzwerken wie Twitter / X oder Linkedin und Facebook über die Cleanthinking-Kanäle ein.