
Verschenkter Strom? Warum negative Strompreise kein Grund zur Panik sind
Ran an die Ladesäule an Ostern und Pfingsten, damit weniger Strom ins Ausland verschenkt wird.
Verschenkter Strom? Die BILD-Schlagzeile klingt alarmierend: „Strom wird ins Ausland verschenkt!“ Besonders an Feiertagen wie Ostern oder Pfingsten, wenn die Sonne vom Himmel brennt und die Windräder sich drehen, taucht das Narrativ immer wieder auf. Doch statt sich über „verschenkten“ Strom zu empören, sollten wir lieber fragen: Was steckt wirklich dahinter – und wie machen wir daraus eine Chance?
Stromexporte: Verschenkt oder vernünftig?
Stellen Sie sich vor, Sie backen an einem Sonntag einen Kuchen, aber alle Gäste sagen spontan ab. Was tun? Sie frieren die Stücke ein, verschenken sie an Nachbarn – oder genießen sie selbst. Ähnlich funktioniert der Strommarkt: Bei hohem Angebot (viel Wind und Sonne) und geringer Nachfrage (Feiertagsruhe) sinken die Preise. Exporte ins Ausland sind dann keine „Verschwendung“, sondern ein rationaler Schritt. Sie stabilisieren das europäische Netz und reduzieren gleichzeitig den Einsatz fossiler Kraftwerke in Nachbarländern.

Die Fakten – verschenkter Strom?
- Negative Preise entstehen, wenn mehr Strom produziert als verbraucht wird – ein Zeichen für den Erfolg der Erneuerbaren.
- Deutschland ist kein Inselstaat: Der europäische Stromhandel gleicht regionale Unterschiede aus. Was hier „überschüssig“ ist, deckt woanders Bedarf.
- Problematisch sind nicht die Exporte, sondern die strukturellen Hürden: fehlende Speicher, träge Netze und verpasste Chancen für flexible Verbraucher.
Die Lösung liegt in der Steckdose (und im Smartphone)
Statt in Schlagzeilen über „verschenkten“ Strom zu lamentieren, sollten wir die Werkzeuge nutzen, die längst existieren:
1. Dynamische Tarife: Strom wird zum Schnäppchen
Unternehmen wie Tibber oder Octopus Energy zeigen, wie’s geht: Ihre Kunden zahlen stündlich oder sogar viertelstündlich wechselnde Preise, die sich am Börsenstrompreis orientieren. An Tagen mit negativen Preisen könnten Haushalte so nicht nur kostenlos laden, sondern sogar dafür bezahlt werden, Strom zu verbrauchen.
Beispiel: Eine Familie lädt ihr E-Auto bei -5 Cent pro kWh auf. Statt 10 € zu zahlen, erhält sie 2 € – und nutzt gleichzeitig sauberen Strom.
Warum klappt das noch nicht flächendeckend? Smart Meter, die solche Tarife ermöglichen, sind in Deutschland noch eine Rarität. Die Politik muss die Einführung beschleunigen.
2. Speicher: Die Brücke zwischen Überschuss und Mangel
Jede kWh, die in Batterien (ob im Keller oder im E-Auto) gespeichert wird, muss nicht „verschenkt“ werden. Heimspeicher in Kombination mit dynamischen Tarifen könnten Überschüsse auffangen und später nutzen – etwa abends, wenn die Sonne untergeht. Doch noch fehlen Anreize, um diese Technologie massentauglich zu machen.
3. Politik: Rahmen setzen, Blockaden lösen
- Smart-Meter-Pflicht nicht weiter verzögern: Digitale Zähler sind die Grundlage für flexible Tarife.
- Netzgebühren reformieren: Wer Strom verbraucht, wenn er reichlich da ist, sollte belohnt – nicht durch hohe Fixkosten bestraft werden.
- Forschung fördern: Power-to-X-Anlagen, die aus Überschussstrom Wasserstoff oder synthetische Kraftstoffe produzieren, brauchen Investitionen.
Was Medien wie ‚Bild‘, ‚NIUS‘ oder ‚Apollo News‘ übersehen
Die Debatte um „verschenkten“ Strom blendet aus, dass negative Preise auch eine Erfolgsgeschichte sind: Sie zeigen, wie viel saubere Energie bereits produziert wird. Statt in alten Denkmustern („Atomkraft rettet uns!“) zu verharren, sollten wir die Energiewende als Puzzle begreifen, bei dem jedes Teil – Speicher, Netze, flexible Verbraucher – ineinandergreifen muss.
Zum Weiterdenken:
Was wäre, wenn jeder Haushalt mit Solaranlage und Batterie sowie jedes Elektroauto automatisch zum Puffer im Stromnetz würde? Wenn Fabriken ihre Produktion an die Windprognose anpassen? Wenn Tankstellen an sonnigen Feiertagen Sprit aus Solarstrom herstellen? Die Technologien existieren. Es fehlt nicht an Ideen – sondern am Tempo.
Negative Strompreise sind kein Menetekel, sondern eine Einladung: die Energiewende nicht nur als Umbau der Kraftwerke, sondern als gesellschaftliches Projekt zu denken. Verschenkter Strom sollte Ansporn sein, schneller zu werden. Wer jetzt in Speicher und kluge Tarife investiert, macht aus einem vermeintlichen Problem einen Gewinn – fürs Portemonnaie und das Klima.
Insgesamt ergeben sich durch angeblich verschenkten Strom, den die Bild-Zeitung erkannt haben will, mehr Chancen als Risiken. Jede Kilowattstunde Solarstrom führt dazu, dass weniger fossile Energieträger importiert und verbrannt werden müssen – die Energiewende ist eine Jahrhundertchance, die auch die Springer-Presse nicht zerreden wird.

Martin Ulrich Jendrischik, Jahrgang 1977, beschäftigt sich seit mehr als 15 Jahren als Journalist und Kommunikationsberater mit sauberen Technologien. 2009 gründete er Cleanthinking.de – Sauber in die Zukunft. Im Zentrum steht die Frage, wie Cleantech dazu beitragen kann, das Klimaproblem zu lösen. Die oft als sozial-ökologische Wandelprozesse beschriebenen Veränderungen begleitet der Autor und Diplom-Kaufmann Jendrischik intensiv. Als „Clean Planet Advocat“ bringt sich der gebürtige Heidelberger nicht nur in sozialen Netzwerken wie Twitter / X oder Linkedin und Facebook über die Cleanthinking-Kanäle ein.