
VW ID.Every1: Ein E-Auto für alle – oder doch nur ein Versprechen?
Es ist ein strahlend gelber Hoffnungsträger, der da über die Bühne rollt. Der heute in Düsseldorf als erste Version vorgestellte VW ID.Every1 soll ab 2027 Elektromobilität für 20.000 Euro möglich machen – ein Preis, der selbst für Stadtbewohner oder junge Familien attraktiv klingt. Doch kann ein Auto, das erst in drei Jahren kommt, heute schon überzeugen? Und reichen 250 Kilometer Reichweite, wenn die Konkurrenz längst weiterdenkt?
Mit 95 PS, 130 km/h Spitze und einer Reichweite von „mindestens 250 Kilometern“ bewegt sich der ID.Every1 auf dem Niveau heutiger Stadtautos. Der Frontantrieb und der modulare MEB-Baukasten versprechen Effizienz, der Innenraum bietet Platz für vier Personen und 305 Liter Kofferraum.
Doch die Zahlen wirken wie aus der Zeit gefallen, wenn man an die chinesischen Modelle denkt, die bereits heute für unter 20.000 Euro ähnliche oder bessere Werte liefern.

Die Reichweitenfrage: Reicht das 2027 noch?
250 Kilometer – das klingt nach einem Kompromiss. Für den Weg zur Arbeit oder den Wochenendeinkauf mag es genügen. Doch was, wenn die nächste Ladesäule weit entfernt ist? Oder im Winter die Heizung läuft? VW bleibt vage: Ist „mindestens“ ein Versprechen für mehr – oder die Obergrenze?
Und warum setzt der Konzern auf LFP-Akkus, die zwar günstiger, aber weniger leistungsstark sind? Bis 2027 könnte diese Entscheidung zum Nachteil werden, wenn andere Hersteller längst höhere Reichweiten zu ähnlichen Preisen anbieten.
Marktstart 2027: Zu spät, um zu gewinnen?
Während VW plant, drängen BYD, Dacia und Citroën bereits mit günstigen Modellen vor. Der Dacia Spring startet bei 17.000 Euro, der chinesische Leapmotor T03 bietet heute schon 265 Kilometer Reichweite. Bis 2027 wird die Konkurrenz nicht schlafen.
VWs Argument: Die Partnerschaft mit Rivian soll eine leistungsstarke Softwarearchitektur liefern, die lebenslange Updates ermöglicht. Doch Software war bisher nicht gerade VWs Stärke. Kann die Kooperation mit dem US-Startup die früheren Probleme ausbügeln?

Fahrgefühl: Pragmatisch statt Premium
Der ID.Every1 soll kein Luxusauto sein, sondern ein zuverlässiger Begleiter. Der Fokus liegt auf Alltagstauglichkeit: kurze Ladezeiten, intuitive Bedienung, physische Knöpfe statt Touchscreen-Overload.
Doch ohne Angaben zur Ladeleistung bleibt unklar, ob der Wagen auch für Mieter ohne Wallbox praktikabel ist. Und wird das „Customer Defined Vehicle“ wirklich individualisierbar sein – oder bleibt es bei Marketing-Versprechen?
VWs Neuerfindung: Zwischen Tradition und Risiko
Der ID.Every1 soll an den Erfolg des e-Up anknüpfen, der trotz Lieferengpässen und Verlusten ein Verkaufsschlager war. Doch diesmal setzt VW auf eine reine Elektroplattform, effizientere Produktion und globale Standorte wie Portugal oder Polen.
Ob das reicht, um den Preis zu halten, ist fraglich. Die Batteriekosten bleiben ein Unsicherheitsfaktor – steigen sie, wird auch der ID.Every1 teurer.

Fazit: Ein Schritt in die richtige Richtung – aber kein Game-Changer
Der ID.Every1 zeigt, dass VW die Lücke im Einstiegssegment ernst nimmt. Das Design überzeugt, die Software-Partnerschaft mit Rivian klingt vielversprechend, und der Preis wäre ein Meilenstein – wenn er hält. Doch die späte Markteinführung und die zurückhaltenden Technikdaten lassen Zweifel aufkommen.
Kann VW mit dem ID.Every1 die E-Mobilität demokratisieren? Oder bleibt er ein Auto unter vielen, das zu spät kommt, um zu beeindrucken?
Die Antwort liegt nicht auf der Bühne in Düsseldorf, sondern in den Fabriken und Entwicklungsabteilungen – und in der Frage, ob VW aus den Fehlern der Vergangenheit gelernt hat.
Den Livestream von der Präsentation des E-Autos gibt es hier.

Martin Ulrich Jendrischik, Jahrgang 1977, beschäftigt sich seit mehr als 15 Jahren als Journalist und Kommunikationsberater mit sauberen Technologien. 2009 gründete er Cleanthinking.de – Sauber in die Zukunft. Im Zentrum steht die Frage, wie Cleantech dazu beitragen kann, das Klimaproblem zu lösen. Die oft als sozial-ökologische Wandelprozesse beschriebenen Veränderungen begleitet der Autor und Diplom-Kaufmann Jendrischik intensiv. Als „Clean Planet Advocat“ bringt sich der gebürtige Heidelberger nicht nur in sozialen Netzwerken wie Twitter / X oder Linkedin und Facebook über die Cleanthinking-Kanäle ein.