Abstandsregel, Bürgerbeteiligung, Rekordernte – die Krise der Windenergie hat viele Facetten.
Es ist ein kleiner Hoffnungsschimmer in stürmischen Zeiten: Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier möchte die umstrittene Abstandsregel, wonach Windräder einen Mindestabstand von 1.000 Meter zur nächsten Wohnbebauung haben müssen, lockern. Doch die Windkraftindustrie kommt derzeit, auch aufgrund des anhaltend windigen Wetters, nicht raus aus den Schlagzeilen. Wie geht es weiter mit der Windenergie?
Altmaier will Abstandsregel für Windenergie lockern
Wie DER SPIEGEL online vermeldet, will Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier im Baugesetzbuch eine Regel festschreiben, die es den Bundesländern selbst überlässt, ob sie 1.000 Meter Abstand zur Wohnbebauung einhalten wollen oder nicht. Aus der „Opt-Out“-Variante solle demnach eine „Opt-In“-Variante werden, so das Magazin. Bislang hatte es insbesondere von Mittelstandspolitikern der CDU heftigen Widerstand gegeben – und die Partei versuchte, Verhandlungen über die Abstandsregel für politische Machtspiele auszunutzen.
Mit der Aufweichung verbindet sich für die hiesigen Windkraft-Unternehmen ein Hoffnungsschimmer. Im vergangenen Jahr sind hierzulande lediglich 276 Windenergieanlagen installiert worden. Viel zu wenig, um die Energiewende voranzutreiben und die Klimaziele einzuhalten. Zum Vergleich: Im Jahr 2017 waren es noch 1.792 Anlagen – also gut sechsmal so viele.
Die Veränderung zeigt sich besonders in Aurich, einst Welthauptstadt der Windenergie. Zu diesem Ruf kam die kleine Stadt als das Cleantech-Unternehmen Enercon zum erfolgreichen und wachstumsstarken Konzern aufstieg. Mehr als 30.000 Windturbinen hat das stolze Unternehmen mittlerweile installiert – ist an vielen Windparks selbst beteiligt.
Die Krise von Enercon: Nicht rein politisch
2017 schrieb Enercon, gegründet von Aloys Wobben, 400 Millionen Nachsteuer-Gewinn in die Bücher – bei einem Rekordumsatz von 5,6 Milliarden Euro. Doch seitdem läuft es nicht mehr rund, wie das manager-magazin in einem ausführlichen Beitrag im Detail beleuchtet. Während Geschäftsführer Hans-Dieter Kettwig der Dritten wie der Politik die Alleinschuld daran gibt, gibt es dem Bericht zufolge auch hausgemachte Schwierigkeiten, die Enercon jetzt in den Griff bekommen muss.
Das Magazin wirft dem Unternehmen jahrelanges Missmanagement und strategische Fehlentscheidungen vor. Lange Zeit ließ die Gründer-Familie um Aloys Wobben und seinen Neffen Simon Wobben sowie einige wenige Weggefährten wie Kettwig oder die zur Co-Geschäftsführerin aufgestiegene Nicole Fritsch-Nehring kaum Beratung von Außen zu.
Rückschläge bei der Eroberung der Märkte Indiens oder der USA führten dazu, dass sich sehr stark auf den deutschen Markt fokussiert wurde. Nicole Fritsch-Nehring wollte dennoch neue Versuche starten, konnte sich im Konzern aber nicht durchsetzen – und verließ das Unternehmen. Erst seit Wobben und seine engen Vertrauten sich von der Wobben-Stiftung zurückgezogen haben, kommt wieder Bewegung rein bei Enercon.
Die Berater von Oliver Wyman, von der Stiftung beauftragt, suchen Sparpotenziale. Erst jetzt kommen neue Manager von Außen dazu, wie beispielsweise der Chief Restructuring Officer Martin Prillmann. Sie sollen dem Enercon-Konzern jetzt moderne Strukturen verpassen – und die Windkrise beenden.
Aber die Zeit wird hart: 2019 rechnet manager-magazin mit einem Verlust von 500 Millionen Euro, bei 2 Milliarden weniger Umsatz als noch 2017. Erst 2022 ist wieder mit Gewinnen zu rechnen, sagt Geschäftsführer Kettwig. Immerhin: Mittlerweile will auch er den neuerlichen Markteintritt von Enercon in den USA vorantreiben. Weiteres Versäumnis: Bei Offshore-Windenergie ist Enercon bislang kaum präsent.
Stürmische Zeiten also für das einstige Vorzeigeunternehmen aus Aurich. Heute ist der einstige technologische Vorsprung dahin, durch Reduzierung der Kosten um 30 Prozent soll es ermöglicht werden, dass sich Enercon wieder häufiger bei Ausschreibungen im Preiswettbewerb durchsetzen kann. Im Hinblick auf die Skalierung des eigenen Geschäfts haben Konkurrenten wie Siemens Games, Goldwind oder Vestas die Nase vorn. Während insbesondere Goldwind und Vestas bis 2018 Marktanteile gewannen, schrumpfte die Bedeutung Enercon auf nur noch 5,5 Prozent.
Rekordernte: Die Energiewende braucht die Windkraft
Dabei braucht die Energiewende die Windkraft, gerade in Deutschland. Und es gibt ausgesprochen positive Signale: Immer mehr Offshore-Windparks werden zügig und zuverlässig fertig. Erst gestern freute sich der Übertragungsnetzbetreiber 50Hertz über die erfolgreiche Integration der Windenergie während des Sturmtiefs Xanthippe.
Demnach seit es gelungen, 16.270 Megawatt Windenergie (22. Februar 18:30 bis 18:45) einzuspeisen, und damit einen neuen Einspeiserekord zu erzielen. Wichtig dabei: Laut 50Hertz können konventionelle Kraftwerke mittlerweile sehr viel flexibler betrieben werden – auch bei Starkwind treten weniger Engpässe im Netz auf. Die Folge: Trotz Rekordernte und Einspeiserekord mussten nur 460 Megawatt Windenergie abgeregelt werden – „so wenig wie nie zuvor“.
Andersherum zeigen die existierenden Windenergieanlagen derzeit bei oft stürmischem Wetter, was in ihnen steckt. Bislang haben die erneuerbaren Energieträger im Jahr 2020 53,8 Prozent des eingespeisten Stroms erbracht. Im Februar waren es Anfang der Woche sogar 62,3 Prozent – und weitere stürmische, aber teilweise auch sonnige Stunden stehen unmittelbar bevor.
Windkraft-Ausschreibungen neu regulieren
Entscheidend für die Windenergie in Deutschland wird nun aber auch sein, ob und wie die Windkraft-Ausschreibungen neu reguliert werden. Denn: Auch bei der jüngsten Ausschreibung im Februar setzte sich die Flaute bei der Windenergie fort – nach einer kurzen Belebung im Dezember 2019. Konsequenz: Die Windbranche fordert, den seit vier Monaten vorliegenden Arbeitsplan endlich umzusetzen – Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier rechnet bis Mitte März mit einem Kompromiss zum Wind- und Solarenergieausbau.
Wie die Bundesnetzagentur vermeldete war die jüngste Ausschreibung wieder deutlich unterzeichnet. Bei einer ausgeschriebenen Menge von 900 Megawatt wurden 67 Gebote mit einem Volumen von 527 Megawatt eingereicht. 66 Gebote mit einer Kapazität von 523 Megawatt erhielten einen Zuschlag, ein Gebot wurde ausgeschlossen. Die Gebotswerte der bezuschlagten Gebote reichten von 5,76 ct/kWh bis 6,20 ct/kWh. Der durchschnittliche Zuschlagswert lag bei 6,18 ct/kWh und damit leicht über dem der Vorrunde (6,11 ct/kWh).
Der Bundesverband Windenergie verweist trotz des windigen Wetters und erfolgreicher Nutzung der erneuerbaren Energie aus Windkraft auf eine drohende Ökostromlücke hin. Demnach schreckten die bundesweiten Ausschreibungsverfahren weiter ab oder seien zu teuer. Durch das Verfahren entstünden größere, ökonomische Risiken, Kreditkosten würden steigen.
Welche positiven Auswirkungen auf die Wirtschaftskraft die Windenergie hat, zeigt eine neue Studie des DIW zu Schleswig-Holstein: dort arbeiten alleine in der Windindustrie mehr als 12.000 Menschen. Der Großteil beschäftigt sich mit dem Betrieb und der Wartung bereits bestehender Anlagen. Allein 2018 wurden wirtschaftliche Effekte in Höhe von mehr als 1,3 Milliarden Euro ausgelöst.
Bürgerbeteiligung: Proteste kommunikativ reduzieren
Neben der Veränderung der politischen Rahmenbedingungen durch Abstandsregel und Ausschreibungs-Veränderungen ist auch das Thema Bürgerbeteiligung ein Entscheidendes, um der Windenergie an Land in Deutschland wieder Flügel zu verleihen. Viele Hundert Protestbewegungen verhindern mit teilweise aberwitzigen Klagen den Ausbau der Stromnetze und von Windkrafträdern, während gleichzeitig Braunkohlebagger bis an Wohnbebauung heran dürfen oder ganze Dörfer abgebaggert werden.
Die Politik muss mit der Windbranche gemeinsam Wege entwickeln, wie mehr Bürgerbeteiligung und bessere Kommunikation zur Reduzierung der Proteste führen kann. Gelingt dieser Schachzug, könnte die Energiewende gestärkt werden. Entsprechende Ausbaupfade auch an Land vorausgesetzt. Sich alleine auf die Offshore-Windenergie zu verlassen, wird nicht ausreichen.
Abstandsregel, Bürgerbeteiligung, Rekordernte – die Krise der Windenergie in Deutschland hat viele Facetten. Nicht alle sind negativ, aber die Wahrnehmung wird oft ins Negative gedreht. Der Standort Deutschland braucht diese Form der erneuerbaren Energieerzeugung – und deutlich mehr Innovations- und Zukunftsoffenheit.
Martin Ulrich Jendrischik, Jahrgang 1977, beschäftigt sich seit mehr als 15 Jahren als Journalist und Kommunikationsberater mit sauberen Technologien. 2009 gründete er Cleanthinking.de – Sauber in die Zukunft. Im Zentrum steht die Frage, wie Cleantech dazu beitragen kann, das Klimaproblem zu lösen. Die oft als sozial-ökologische Wandelprozesse beschriebenen Veränderungen begleitet der Autor und Diplom-Kaufmann Jendrischik intensiv. Als „Clean Planet Advocat“ bringt sich der gebürtige Heidelberger nicht nur in sozialen Netzwerken wie Twitter / X oder Linkedin und Facebook über die Cleanthinking-Kanäle ein.